Nichts als Schreckgespenster. Die Süddeutsche Zeitung schickt einen Artikel zum Open Access gen Frankfurt

Wer nach einem schönen BBK-Vortrag z.B. zum Thema Open Access und geisteswissenschaftlichen Primärdaten bzw. konkret zum ECHO Projekt an einem solchen Dienstagabend in einem Straßencafé der Berliner Kastanienallee zum Nachtmahl einkehrt, bekommt die Süddeutsche Zeitung vom Mittwoch druckfrisch als Beilage serviert. Je nach Betrachtung lässt sich die aktuelle Ausgabe allgemein als Hors d’œuvre zum kulinarischen Ausklingen des Tages oder als Nachtisch zur Präsentation der digitalisierten Keilschriften und der daraus folgenden Umwälzungen in der Wissenschaftspraxis der Assyriologie lesen.

Oder mehr in Hinblick auf Open Access an sich, denn im Feuilleton lacht dem aufblätternden Betrachter ein Beitrag entgegen, der sich in der Überschrift am Titel der momentan vielgerühmten, aber mangels Online-Verfügbarkeit wohl weniger gelesenen Ausgabe der Zeitschrift Gegenworte orientiert. Titelt diese “Die Wissenschaft geht ins Netz”, so hat Johan Schloemann den Schritt in gewisser Weise bereits vollzogen und entsprechend liest man über dem Artikel: Die Wissenschaft im Netz.

Darunter folgt ein höchst lobenswerter Aufruf, der sich prima auf die heute in Frankfurt/Main stattfindende Urheberrechtstagung beziehen lässt: “Schluss mit dem Kulturkampf” und als Themenstellung für den Text “Die Chancen des Open Access.”

In der Tat ist der Artikel auf die Veranstaltung, die vorwiegend über Roland Reuß als “gegenwärtige[n] Meister” “düstere[r] Schreckensszenarien” identifiziert wird, ausgerichtet und möchte offensichtlich den Anspruch der Versachlichung der Debatte gleich selbst einlösen. Entsprechend erfreulich unaufgeregt erläutert Schloemann zunächst einmal den allgemeinen Erkenntnisgewinn, den jeder halbwegs an Argumenten Interessierte aus der Hitze der Debatte ziehen musste:
“Längst wurde seitdem dazugelernt, dass das Massendigitalisierungsprojekt von Google, Raubkopien von E-Books, belletristisches Publizieren und Open Access in den Wissenschaften ganz verschiedene Fragen sind, die nicht zusammengehören. Die Wissenschaftsorganisationen mussten erklären, dass sie mit dem illegalen Herunterladen von Büchern von Daniel Kehlmann und Brigitte Kronauer nichts zu tun haben.”
Schlimm genug, dass sie das überhaupt mussten. Wer es jetzt aber nicht verstanden hat, tut dies mit Vorsatz… Im Anschluss an diese Passage wendet sich der Autor einem seiner Meinung nach verbindenden Element aller beteiligten Positionen zu: der Auffassung “Es muss nicht alles gedruckt werden.” Die Flut wissenschaftlicher Publikationen scheint ihm dafür als Veranschaulichung geeignet. Allerdings hat die Wissenschaft durchaus eine halbwegs angemessene Lösung für die Unmöglichkeit, die pro Jahr erscheinenden 1,6 Millionen Aufsätze zu lesen, gefunden. Sie spezialisiert sich mit den bekannten Folgen. Das Beispiel ist also dürftig, denn niemand liest auf Vollständigkeit, weder in der Wissenschaft noch auf den Buchmarkt mit seinen 80.000 oder 90.000 Neuerscheinungen im Jahr noch in der Tageszeitung. Die Publikationsflut lässt sich auf der individuellen Ebene durch eine konkrete Interessenformulierung und möglichst optimierte Relevanzauswahl – für die Informationsvermittler wie Bibliotheken eine Rolle spielen können – immerhin grob eindeichen.
Und wenn es ans eigene Publizieren geht, da ist Schloemann beizupflichten, nimmt ohnehin kein Wissenschaftler Rücksicht:
“Er muss seine Publikationsliste anreichern, um im Kampf um Stellen und Drittmittel eine Chance zu haben.”

In der Regel, so könnte man das Argument anders herum legen, erfüllt der Wissenschaftler durch das Publizieren auch seine Rechenschaftspflicht gegenüber denen, die ihm seine Wissenschaft finanzieren. Das führt direkt ins Herz eines zentralen Streitpunkts in der Debatte, zu dem der Artikel leider nicht konkret wird.

Er erläutert vielmehr am Beispiel von Tagungsbänden, dass man nun mit dem Netz die Möglichkeit hat, alles zu publizieren, ohne es gleich drucken zu müssen. Nun ja, die materielle/nicht-materielle Form ist ohnehin auf dem Weg, so relativ zu werden, dass sich an dieser Frage im Print-on-demand-Zeitalter wohl niemand mehr aufhalten wird.

Relevanter ist da vielleicht die Aufklärung, dass sich kommerzielles Verlegen von Inhalten und die Publikation nach Open Access, z.B. mit dem berühmten “Moving Wall”-Prinzip, keinesfalls ausschließen und schon gar nicht das Ende der Verlagsvielfalt zu befürchten ist. Bedroht ist die Verlagslandschaft

“nur eben an ihren extremen Rändern, mithin dort, wo die Preise für Sammelbände und vor allem Zeitschriften in den letzten Jahren so exorbitant gestiegen sind, dass die Etats der Forschungsbibliotheken sie einfach nicht mehr bewältigen können.”

Dass die Bedrohung nicht einmal zwangsläufig die Akteure, sondern vorwiegend Geschäftsmodelle betrifft, zeigen gerade die dominanten Wissenschaftsverlage, die mit ihren “Author-Pays”-Ansätzen eigene Open Access-Verfahren entwickeln, von denen sie vielleicht auch ganz gut leben können. Publizieren müssen die Wissenschaftler nunmal und angesichts der schon erwähnten Publikationsmenge spielen diese Verlage durchaus eine Rolle, in dem sie Publikationen kanalisieren und in einer Form labeln, die dem Einzelwissenschaftler über die Zuordnung zu Zeitschriften bestimmter Güteabstufungen einen schnelleren Überblick verschafft. Ihre Aufgabe ist die Reduktion von Komplexität über die Vorauswahl. Das Einrechnen von Publikationskosten für diese Dienstleistung vor der eigentlichen Veröffentlichung erscheint dabei allemal fairer, als die Barriere, die die Subskriptionen aufschichten.

Schloemann weist darauf hin, dass Open Access Journals durchaus eine tatsächliche Rolle spielen, die darauf schließen lässt, dass sie nicht von staatlichen Kontrollinstanzen über die Wissenschaftler gestülpt wurden, sondern durchaus in der Community selbst angestoßen und vor allem angenommen werden und durch sie funktionieren. Er schätzt aufgrund der Daten des DOAJ, dass 15 % aller Zeitschriften mit Peer Review (“also mit geregelter Kollegenkontrolle”) Open Access sind. Dass diese Schätzung recht grob und vielleicht etwas hoch gegriffen ist kann man natürlich bemängeln. Es bleibt aber vermutlich ein ausreichend großer Anteil, um daraus zu schlußfolgern, dass Open Access als Publikationsvariante in der Wissenschaft durchaus angenommen wird. Und zwar von den Wissenschaftlern. Geht es dem “Heidelberger Appell” auch mehr um das (Parallel)-Publizieren in Repositorien und weniger um das Publizieren in Open Access-Zeitschriften, so wird doch der sich lange zäh haltende Mythos erledigt, dass Wissenschaftler eigentlich gar kein Interesse an Open Access hätten, sondern Opfer einer “technokratischen Machtergreifung” (Roland Reuß) würden. Jedoch sollte man die beiden Grundformen der OA-Veröffentlichung – Zeitschrift und Repositorium – bei einer tiefer greifenden Auseinandersetzung differenzieren, sprechen sie doch eine jeweils andere Form der Wissenschaftskommunikation an.

Sicher sind privatwirtschaftlich operierende Verlage mit ihren Erfahrungen im Ideallfall “Garanten von Qualität und Vielfalt”. Allerdings sind genauso gut Modelle vorstellbar, in denen die Peer Review oder auch Open Review-Plattformen über öffentliche Forschungs-/Forschungsinfrastrukturetats und dennoch problemlos unter Absicherung der Wissenschaftsfreiheit organisiert werden. Oft sind die Herausgeber bzw. koordinierenden Redakteure solcher Zeitschriften ohnehin als Wissenschaftler bei entsprechenden Institutionen angestellt. Wer sie für diese Aufgabe entlohnt – mitunter ist es ja eher eine Art Ehrenamt denn eine nennenswerte Einkommensquelle – dürfte ihnen am Ende womöglich gar nicht so wichtig sein. Es ist also nicht unbedingt schlüssig, wieso die Aufgabe der Qualitätskontrolle unbedingt von privatwirtschaftlichen Akteuren organisiert werden muss. Natürlich übernehmen in der Realität überwiegend letztere diese Aufgabe und vermutlich wird es in absehbarer Zeit dahingehend nur geringe Veränderungen geben. Entsprechend ist Schloemanns Fazit zuzustimmen:

“[...] das Schreckgespenst einer staatlich monopolisierten Publikationskultur ist völlig übertrieben. Ein Zwang, alles auf Online-Portalen der Wissenschaftseinrichtungen zu publizieren, lässt sich überhaupt nicht durchsetzen. Da ist schon der Wunsch der Wissenschaftler vor, eine möglichst diversifizierte Publikationsliste vorweisen zu können. Geben wir also Open Access eine Chance.”

(Schloemann, Johan: Die Wissenschaft im Netz. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 160, 15. Juli 2009, S. 9)

2 Responses to “Nichts als Schreckgespenster. Die Süddeutsche Zeitung schickt einen Artikel zum Open Access gen Frankfurt”


  1. Mittlerweile ist der Artikel auch im Volltext online verfügbar.

  1. [...] Nichts als Schreckgespenster. Die Süddeutsche Zeitung schickt einen Artikel zum Open Access gen… "Darunter folgt ein höchst lobenswerter Aufruf, der sich prima auf die heute in Frankfurt/Main stattfindende Urheberrechtstagung beziehen lässt: “Schluss mit dem Kulturkampf” und als Themenstellung für den Text “Die Chancen des Open Access.” In der Tat ist der Artikel auf die Veranstaltung, die vorwiegend über Roland Reuß als “gegenwärtige[n] Meister” “düstere[r] Schreckensszenarien” identifiziert wird, ausgerichtet und möchte offensichtlich den Anspruch der Versachlichung der Debatte gleich selbst einlösen. Entsprechend erfreulich unaufgeregt erläutert Schloemann zunächst einmal den allgemeinen Erkenntnisgewinn, den jeder halbwegs an Argumenten Interessierte aus der Hitze der Debatte ziehen musste" (tags: IBI_Weblog Open_Access Ben_Kaden Urheberrecht replik 07/2009 2009) [...]

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