Ach Duschanbe! Jimmy Wales zwischen den Stunden in der Bücherei und dem Backup seines Lebens

Wenn früher die Zeitungen über Tadschikistan berichtet haben – ich nenne das Land, weil ich darüber so gut wie gar nichts weiß -, dann musste man in die Bücherei gehen, um sich weitergehend mit diesem Staat beschäftigen zu können. Und wer hatte schon vor 40 Jahren die Zeit, zur Bücherei zu gehen, um sich dort ein Buch auszuleihen, in dem man dann stundenlang lesen musste. Heute geht das wesentlich schneller mit Wikipedia, Blogs und anderen neuen Foren.

Jimmy Wales verteigt das Internet in einem Interview im Kölner Stadt-Anzeiger mit dem Argument der Geschwindigkeit gegen den Vorwurf, es mache die Menschen oberflächlicher. Die “Bücherei” erscheint dabei durchaus als eine Art elitäre Institution für all die, die nichts Besseres zu tun haben, was gut zu dem Demokratisierungsparadigma, das die Vertreter der Web2.0-Medien gern vermitteln, passt. In gewisser Weise übersehen sie dabei, dass es durchaus möglich, sich die Rezeptionszeit und die Rezeptionspraxis anders organisieren. Zum Beispiel auch jenseits des Internets.

In seiner Antwort auf den Einwand, im Internet bekäme man “oft nur eine grobe Zusammenfassung mit den wichtigsten Daten und Fakten“, entkräftet Wales das Argument des Tempos selbst wieder, denn er formuliert als Voraussetzung für das Einordnen in einen Zusammenhang:

“Wenn man sich im Netz auskennt, findet man das, was man sucht.”

Offen bleibt, was er unter “auskennen” versteht. In der Regel basiert solch ein “Auskennen” auf einer gehörigen Portion dessen, was man als Informationskompetenz bezeichnet. Und die wiederum setzt stundenlange und vor allem in Hinblick auf die Dynamik des Mediums permanente Beschäftigung voraus.  Das Beispiel Tadschikistan ist ein relativ schlechtes, der entsprechende Wikipedia-Artikel selbst im Vergleich zum Fischer Weltalmanach eher schwach entwickelt daherkommt. Er gewinnt einzig durch die Hyperlink-Anbindung an externe Quellen. Da entdeckt man dann auch einen Hinweis auf Shirin Akiners Buch Tajikistan: Disintegration or Reconciliation? Wer aber soviel über das Land wissen möchte, muss wohl oder übel stundenlang lesen – selbst wenn er denn Volltext im WWW entdeckt.
Was also Wales übersieht, ist, dass die Kenntnis der Zusammenhänge prinzipiell stundenlanges Lesen (bzw. teilweise auch  Zuschauen oder Zuhören) erfordert. Abgesehen davon, dass es sowohl vor 40 Jahren wie auch – nach eigener Beobachtung – heute Menschen gab und gibt, die diese Zeit haben, stundenlang, manchmal tagelang ein Buch zu lesen, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als uns die Zeit zu nehmen, sofern wir Zusammenhänge verstehen wollen. Ob Bildschirm oder Büchereibuch spielt da keine Rolle.

Dass wir viel mehr wissen können, weil die Wege zu den Texten kürzer werden, ist m.E. ein Mythos. Denn der Weg zwischen Text und Verstehen verändert sich auch durch Glasfaserverkabelung nicht. Allerdings bürstet uns die Transformation zum digitalen Kommunikator ein anderes, oft mehr als Stunden fressendes Problem auf:

Wann waren Sie zuletzt mal einen ganzen Tag offline?

WALES: Das war vor ein paar Monaten in China, nachdem mir der Computer gestohlen worden war. Ich war ein paar Tage in dem Land, in der Zeit war ich offline. Keine einfache Zeit für mich, ich konnte keine Emails schreiben, hatte keinen Zugriff auf meinen Kalender. Als ich zu Hause war, hat es Wochen gedauert, um mein Leben mit Back-ups zu rekonstruieren.

1 Response to “Ach Duschanbe! Jimmy Wales zwischen den Stunden in der Bücherei und dem Backup seines Lebens”


  1. Den Einwand teile ich: Lesen und Lernen brauchen immer Zeit. Aber was Sie nicht berücksichtigen, ist, dass das Internet (idealerweise) eine Quellenvielfalt verfügbar macht. Und damit werden die Wege doch kürzer, in der Summe der verschiedenen Quellen.

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