Britpopliteratur mit Misston. Die NZZ über die Eventarisierung des Lesens und den Niedergang der öffentlichen Bibliotheken in Großbritannien.

«Büchereien zu schliessen, ist Kindesmissbrauch», rief auch der Schriftsteller Alan Bennett, der sich an Bibliotheksbesuche als essenziellen Bestandteil seiner Kindheit erinnert.

berichtet Marion Löhndorf im Feuilleton der heutigen Neuen Zürcher Zeitung (Es lebe das Lesen, 12.05.2011). Gegenstand ihres Berichts ist die britische Lesekultur und mit Alan Bennett und seiner glücklichen Bibliothekskindheit zitiert sie sicher einen der souveränsten Leser seines Landes.

Aber auch sonst hält sich die Kulturpraxis des Lesens von Literatur auf der Insel trotz digitalmedialer Konkurrenz entgegen traditionellem Verfallsgegrummel und Verdrängungsprophezeiungen, die wir auch aus deutschen Diskursen gut kennen (Ende des Buches, Distraktion durch Lesen und Schreiben im Web oder auf dem Mobiltelefon sowie – in Deutschland weniger aggressiv – Gratiszeitungen) in einem – wie die Autorin schreibt – “nahezu rosigem Licht”.

Gerade die Möglichkeit zum intensiven Austausch über Literatur im Internet führt anscheinend im Zusammenwirken mit einem Boom einer Literatureventkultur, der sich in diversen Festivalansätzen Ausdruck und irgendwie auch Literatursuperstars sucht, zu neuen Aufmerksamkeiten und zu dem Eindruck: “es sei fast chic geworden, zu lesen und über Bücher zu reden.” Das ist weiß Gott keine Einzelmeinung. Das Lesen von Literatur einfach mal ohne eine Aufladung mit Wertungen als sympathisches Phänomen affirmieren, scheint jedoch unmöglich zu sein.

So sieht Jamie Camplin, Managing Director von Thames & Hudson, im Lesen eine Kur, “nicht nur ein Antidot zur sozialen Fragmentierung, auch der Oberflächlichkeit und «krankhaften Eile» unserer Zeit könne das Buch entgegenwirken.”

Abwegig ist dies sicher nicht. Aber es setzt das Medium und seine Nutzung sofort wieder unter Druck. Andererseits muss man diesen vielleicht auch erhöhen, denn das rosige Licht der Eventarisierung der Literatur wirft einen düsteren Schatten, der uns zu Alan Bennett zurückführt und ins öffentliche Bibliothekswesen Großbritanniens.

So steht Großbritannien bekanntlich ein in der jüngeren Zivilisationsgeschichte beispielloser Aderlaß bevor: Achthundert Einrichtungen stehen offensichtlich vor der Schließung aus Kostengründen. An dieser Stelle wäre dann statt einer feiernden Popularisierung eine nüchterne Politisierung der Literatur möglicherweise der bessere Weg zum Kern des Problems. Das in Camplins “sozialer Fragmentierung” liegt.

Die markige Aussage des Schriftstellers Philip Pullman, Premierminister David Cameron sowie sein Stellvertreter Nick Clegg seien mutmaßlich noch nie in einer (öffentlichen) Bibliothek gewesen, läuft ziemlich exakt auf diesen Mittelpunkt zu:

“Provocatively, he states that David Cameron, George Osborne and Nick Clegg have “probably never used a public library” in their lives.

“They come from rich backgrounds and live in places where there are nice bookshops and they just buy books when they want them.”

Zur Disposition steht also weder das Medium Buch noch die Praxis des Lesens, sondern die Öffentlichkeit über die Absicherung eines Zugangs zu beidem. So unbedarft Pulmans Attacke auf die soziale Herkunft auf den ersten Blick anmutet, so richtig scheint die Stoßrichtung zu sein: Das Buch wird (wieder) zum exklusiven Gut.

Das passt nahtlos zu der in der NZZ freudig beschriebenen neuen Lust am Lesen, die die Literatur vor allem in ihrer Anschlussfähigkeit an die Eventgesellschaft zu einem macht: zum Konsumobjekt. Die Tendenz ist nicht an sich problematisch, wird aber dann schwierig, wenn im Ergebnis andere Potentiale verdrängt werden und im letzten Jahrhundert mühsam gekittete gesellschaftliche Verwerfungslinien wieder aufreißen.

Das Abheben auf die Dimensionen der Aufmerksamkeit und des prinzipiellen Medienwandels (wie bei Aspekten wie Konzentrationsfähigkeit oder Medienkonkurrenz) lenkt von genau diesem, einer demokratischen Gesellschaft eher unzuträglichen, Effekt ab: den Verlust von Öffentlichkeit gerade durch ein Überangebot von (zumeist kommerziell grundierten, billigen) Medien und der Reduktion von öffentlichen Alternativräumen.

Das Medium Buch wird es geben, solange es einen Markt dafür gibt. Also mindestens noch eine halbe Ewigkeit. Jeder Streit darüber ist müßig und die Frage nach Geschäftsmodellen für digitale Räume sollte vorrangig eine der Verlage und anderer Verwerter sein. Die lebendige Lesekultur ist ein quirliger Markt. Und um diesen steht es, im Gegensatz zum öffentlichen Raum der Bibliothek, auch in Großbritannien sehr gut. Die Frage nach den Folgen einer Totalreduktion von Lesen und Literatur auf ein Marktereignis, wie sie in Großbritannien offenkundig vorgelegt wird und mehr oder weniger intensiv auch in andere EU-Mitgliedsländer hineinzuschwappen droht, ist dagegen eine für die Bibliothekswissenschaft. (Und vielleicht auch eine für www.bibliothekswissenschaft.eu.)

(Als eine gute Diskussion der Rolle der Bibliothek als Sicherungsinstanz öffentlicher Teilhabemöglichkeiten ist nach wie vor die Arbeit Manuela Schulz’ aus dem Jahr 2009 zu empfehlen:  Soziale Bibliotheksarbeit – „Kompensationsinstrument“ zwischen Anspruch und Wirklichkeit im öffentlichen Bibliothekswesen. Berlin: 2009. – sh. auch hier)

1 Response to “Britpopliteratur mit Misston. Die NZZ über die Eventarisierung des Lesens und den Niedergang der öffentlichen Bibliotheken in Großbritannien.”


  1. [...] Literatur insgesamt auf der Insel gar nicht so schlecht geht.  (vgl. zum Thema auch den Kommentar Britpopliteratur mit Misston im [...]

Leave a Reply

You must login to post a comment.