Treffer! Versenkt!: Volker Gerhardts “bürokratischer Imperativ des Open Access” und die Schriftkultur

Steter Tropfen höhlt den Stein, sagt man sich wohl bei der FAZ. Besonders wenn es um den unsinnigen Kreuzzug gegen das Open-Access-Prinzip bzw.: den Open-Access-Imperativ geht. Heute schreibt mit dem Philosophen Volker Gerhardt durchaus einmal jemand, von dem man solides Argumentieren erwarten darf, allerdings nicht exklusiv für die FAZ, denn diese hat seinen Beitrag für die Schwerpunktausgabe der Zeitschrift Gegenworte (Heft 21) auf zeitungstaugliches Niveau zusammengekürzt. Damit muss man erst einmal auskommen, denn die Gegenworte sind noch nicht erschienen. Man traut aber der FAZ-Redaktion zu, dass sie sich im sinngemäßen Kürzen auskennt und bedankt sich für die vorgreifende Nachverwertung.

Der Artikel  mit der mächtig abgeschmackten Überschrift “Open Exzess: Die Folgen des Publizierzwangs” (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.06.2009, Seite N5) zeigt sich am Ende leider auch wieder nur als dystopisch kolorierte Angst vor einem “Monopol” elektronischer Publikationsformen und davor als ein Hohelied auf die Verdienste der Verlagslandschaft für die Wissenschaft und die Gefahren der Zerstörung (sowohl als auch) durch das freie Publizieren im Netz.

Nun ist leider schon die Prämisse verkehrt, denn genauso wenig wie „das Internet“ als Feind des Intellektuellen und der Tageszeitung gibt es nur eine Form des „Open Access“. Statt rigorosem Publikationszwang werden diverse Schattierungen diskutiert und angewahnt und jemand, dem es an Argumentation gelegen ist, sollte wenigstens erklären, dass er mit einer übertriebenen Zuspitzung hantiert und nicht mit der Tatsächlichkeit der Sachlage. Die lautet: Es gibt momentan keinen Zwang zum Open Access. Und angesichts des Furors der Verlagslobby, einiger Heidelberger und mancher Wissenschaftler werden auch die Wissenschaftsorganisationen den Teufel tun und hier mehr als Freiwilligkeit verlangen. Bei konkreten Finanzierungsförderungen mag das anders aussehen. Aber das entspricht auch dem normalen Umgang mit Verlagen: Es gibt Bedingungen, die der Autor annehmen kann oder ablehnen.

Feindschaft zu den Verlagen sucht man in der Open-Access-Bewegung jedenfalls nicht. Sondern man unterbreitet ein Angebot, dass relativ neu, mitunter noch besser in die Rahmenbedingungen eingepasst werden muss, ansonsten aber durchaus seinen Zweck erfüllt.

Leider rufen Volker Gerhardt, der seinen Text eigentlich erfreulich moderat beginnt, und auch andere Beiträger zu der Debatte beim Leser ein wenig den Eindruck hervor, dass irgendeine dritte Macht versucht, der Wissenschaft eine Open-Access-Bürokratie aufzuzwingen, die wissenschaftliches Arbeiten, wie man es bisher kennt, nachhaltig beschädigen wird.

Open Access, woher er wirklich kommt

Dabei entfällt, dass Open Access eine Initiative aus der Wissenschaft heraus ist, die aus oft genannten, wohl bekannten und richtigen Gründen entstand – nämlich einerseits als Gegenreaktion zur so genannten Zeitschriftenkrise, die den Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen durch das Monopol bestimmter wissenschaftsexterner Marktakteure kaum bis unbezahlbar machte und andererseits als Nutzung der zeitnahen und kostengünstigen technischen Möglichkeiten für die innerwissenschaftliche Kommunikation, die elektronischen Kommunikationsumgebungen nun einmal bieten.

Gleichwohl darf man sich nicht einbilden, mit dem Imperativ des Open Access der Wissenschaft etwas Gutes zu tun. Sie leidet schon lange genug unter der Verwechslung von Quantität mit Qualität, mit der das Rating an die Stelle der Urteilskraft tritt und die im Übrigen ein sicheres Indiz dafür ist, dass die Wissenschaft sich nicht mehr nach ihren eigenen Kriterien bewertet.

Dass das, was der Mensch so gern tut vom zu wenig ins zu viel kippt, ist eine Grunderfahrung nicht nur aus dem elektronischen Umfeld. Auch der Printmarkt überschüttet jeden leicht über engste disziplinäre Eingrenzungen hinaus Blickenden mit weitaus mehr Inhalten, als er vernünftig rezipieren kann. Das Klagelied: “Wer soll das alles lesen!” ist noch älter als “Wer soll das bezahlen!” Die Dokumentation hat mit den Abstract-Zeitschriften und ähnlichen Ansätzen vor weit mehr als hundert Jahren bereits Ausgleichsformen zur Komplexitätsreduktion entwickelt, die immer Perpetual Beta waren. Dies ist nun einmal der charakteristische Zug eines gesellschaftlichen Tätigkeitsfelds, das genuin nach Neuem strebt: Dynamik. Die Kommunikationswerkzeuge folgen immer mit einer gewissen Verzögerung dem tatsächlichen Geschehen. Es muss erst das Problem auftreten, bevor man die Lösung durchsetzen kann.

Im elektronischen Publizieren – denn eigentlich geht es Volker Gerhardt nicht nur um Open Access, sondern an sich um elektronisches Publizieren mit seinen Nebenwirkungen – ist dies genauso der Fall. Da diese Kommunikationsumgebungen mit so aussagearmen Kriterien wie Klick- und Downloadraten zunächst einmal exzellente quantitative Messmöglichkeiten bieten, greift jeder, der in der Lage ist, bewerten zu wollen oder zu müssen, zunächst beherzt zu. Wenn er dann aber schließlich darauf kommt, wie fehlgeleitet seine Schlussfolgerung aus einem rein mengenorientierten Ranking sein kann, wird er sich an die Entwicklung differenzierterer Ansätze machen. Es gibt durchaus rege Tätigkeit auf diesem Feld. Dass quantitative Evaluation wenig über die Güte von Wissenschaft aussagt ist mittlerweile ein Allgemeinplatz.

Eitel schreibt am meisten?

Warum hat Volker Gerhardt eigentlich so wenig Vertrauen in die Selbstregulierung der Wissenschaftsgemeinschaft?:

Jeder ist sein eigener Lektor, der dem Autor großzügig jede Eitelkeit durchgehen lässt. Mit der Verständlichkeit der Ausführungen hat er jedenfalls keine Probleme, schließlich hat er den Text ja selber verfasst. Von der Illusion umfangen, die Ablagerung im Netz sei schon die Aufnahme durch die wissenschaftliche Welt, verwechselt er die Produktion des Textes mit dessen Rezeption.

Glaubt er, dass seine Peers einen schlechten, im Netz abgelagerten Artikel seiner Feder unreflektiert rezipieren und applaudieren? Mit entsprechenden Diskussionsstrukturem im Web stände wohl eher schnell bei einem rezeptionsbasierten Post-Review-Verfahren an der entsprechenden Stelle: „Mir scheint, Sie sind ein eitler Geck/und schreibens nur zum eigenen Zweck“ – allerdings in der Etikette entsprechender Wissenschaftssprache. Traditionell reguliert die Wissenschaft, was sie für wissenschaftlich hält und nicht der Lektor im Verlag. Dieser markiert bestenfalls eine Schranke, die dafür sorgt, dass das Publizierte ins Verlagsprogramm passt. Er urteilt in erster Instanz nach Verkaufbarkeit, wobei Wissenschaftlichkeit bei wissenschaftlichen Verlag ein relevantes Kriterium ist. Zeitgeist aber auch. Der Abgelehnte geht im Regelfall einfach zu einem anderen Verlag und irgendwann wird sein Text doch gedruckt.

Fünf Stufen in die Versenkung

Wie dem auch im Print auch sei, für das Publizieren im Internet sieht Volker Gerhardt stufenweisen Schwund an Kultur und Kultiviertheit. Seine fünf „Sinkstufen“ zur Zersetzung der Schriftkultur sind allerdings nur der schematisierte Ausdruck, dass er sich eine Welt, in der der idealtypische Wissenschaftsverlag nicht mehr das tut, was man idealtypisch von ihm erwartet, nicht vorzustellen vermag.

Stufe 1: Kurz gesagt: Der Wissenschaftler stellt die Texte lieber selbst ins Netz und lässt die Verlage außen vor. Die dürfen ihn zwar noch drucken, erhalten aber keine Rechte – was eigentlich bedeutet: keine Exklusivrechte. Volker Gerhardt flüchtet sich an dieser Stelle in eine eher peinliche Polemik:

Zwar räumen sie den Verlagen die Möglichkeit zur Publikation der Ergebnisse ein, sind aber nicht bereit, ihnen auch Rechte zuzugestehen. Wie kämen sie auch dazu, wenn doch offensichtlich ist, dass die Verlage nur ihre Profite machen wollen? Unter Berufung auf den Konsens, der den Open Access so selbstverständlich macht, kann ein Wissenschaftler es doch nicht zulassen, dass sich ein Verlag an der Vermarktung von Ergebnissen bereichert, die unter Einsatz öffentlicher Mittel erzielt worden sind.

Derartig schlicht funktional ticken Wissenschaftler nicht. Es geht im Open Access nicht darum, den Verlagen ihre Leistung abzuerkennen oder sie zu beschädigen. Daher bestehen auch Embargo-Szenarien, die den Verlagen einen bestimmten Zeitraum geben, einen Titel sogar exklusiv zu vermarkten. Nur danach, wenn die Restauflage in der Backlist verschwindet oder remittiert wird, versteht man nicht, warum der Text nicht auch frei zugänglich im Netz stehen darf. Das Ziel eines Open Access-Ansatzes ist an dieser Stelle mehr ein Ausbalancieren der Interessen der Wissenschaft und der Verlage und nicht, letzteren die Existenzgrundlage zu nehmen. Selbst bei Pre-Prints ist die Verlagspublikation –sofern der Verlag seine Arbeit (gut) macht – eben nicht identisch mit dem E-Produkt. Das erklärt sich schon rein aus der Materialität des Druckwerks und schließt im Idealfall das Lektorat mit ein. Der Verlag publiziert in solch einem Szenario mit der ersten Auflage die zweite verbesserte und überarbeitete Ausgabe eines Textes.

Es ist unverständlich, warum diejenigen, die sich damit am besten auskennen, grundsätzlich annehmen, niemand würde eine solche Optimierungs- oder Veredelungsleistung honorieren und doch das Buch kaufen, obschon es denn Inhalt frei online gibt. Aus anderen Bereichen – z.B. der DRM–Diskussion – kennt man das Prinzip, dass Anbieter ihren Kunden grundsätzlich als Gefahr und Feind bewerten. Die Verlage begeben sich momentan oft in eine ähnliche Richtung und werden sicher von ihrem Misstrauensgrundsatz nicht profitieren. Sie vergessen gern, dass man sie nie für die Inhalte selbst bezahlte, sondern nur dafür, dass sie diesen eine rezeptionsadäquate Form gaben. Oder, weil sie der einzige Weg waren, um die Inhalte überhaupt zur Kenntnis nehmen zu können. Der zweite Punkt verschwindet zugegeben mit Open Access und trägt damit der Verfasstheit immaterieller Güter wie der wissenschaftlichen Information konsequent Rechnung. Der erste Punkt bleibt, gerade im elektronischen Umfeld, hoch relevant.

Die zweite Stufe betrifft das Wegfallen der Bibliotheken als Käufer von Büchern:

Die zweite Sinkstufe besteht darin, dass die Verlage keine Möglichkeit mehr sehen, Texte herauszubringen, die ihnen noch nicht einmal mehr die Bibliotheken abkaufen, weil ja ohnehin alles kostenlos im Netz zu haben ist.

Es wurde schon vermehrt darauf hingewiesen, dass im Bibliotheksetat ein übergroßer Anteil in die objektiv überteuerten Zeitschriftenpakete einige Monopolverlage gehen, was sich negativ auf die Monographieetats auswirkt. Gerade hier müssten die mittelständischen Wissenschaftsverlage Open Access befürworten, da dadurch wieder Geld für ihre Produkte frei werden könnte. Internetpublikationen erweisen sich für die argumentativ ausgerichteten Disziplinen nicht als zwingend vorteilhaft. Wenn die Wissenschaftler als Bibliotheksbenutzer also einen entsprechenden Bedarf artikulieren und als mündige Nutzer auftreten, die nicht alles hinnehmen, was ihnen die Sparvorhaben eines Berliner Senats aufdrängen möchten, dann werden sie auch mit längerer Perspektive das Printprodukt ins Freihandregal bekommen, das sie möchten. In der Bibliothekswelt predigt man jedenfalls andauernd, wie wichtig Nutzerorientierung ist. Man wird das gedruckte nicht gegen den Willen der Wissenschaftler aus dem Bestand nehmen. Dass die Einrichtungen Dienstleister für die Wissenschaft sind, ist weitgehend Konsens. Dass Bibliothekare bislang als Sinnenmenschen selbst zumeist Bücher bevorzugen, ist auch bekannt.

Ein anderer Punkt ist das grundsätzliche Vorurteil, Netzpublikationen seien per se von minderer Qualität, denn sie basieren „auf der dilettantischen Textbearbeitung durch die Editoren.” Wer sagt denn, dass nicht inner- und außeruniversitär Raum für professionelle Edition auch von Netz- und OA-Dokumenten ist? Wieso sollen ausschließlich die traditionellen Verlage entsprechende Kompetenzen aufweisen? Wenn die Verlage clever sind, dann orientieren sie sich verstärkt auf dieses Feld und entwickeln ansprechende und hochwertige Formen für die netzpublizierten Inhalte. Fast niemand erfreut sich daran, Inhalte auf Quellcodeniveau oder im Rohschnitt zu lesen. Warum sollte man längerfristig daran Geschmack entwickeln?

Entsprechend redundant ist dritte „Sinkstufe“. Volker Gerhardt vermisst bei Netzpublikationen die “kundige Bearbeitung durch professionelle Lektoren und Produzenten”. So etwas ist für ihn im Open Access scheinbar ausgeschlossen, denn die Wissenschaftler selbst bekommen nur die elementaren Forschungsvoraussetzungen. Allerdings sind spätestens seit dem DTP Wissenschaftler nicht selten ihre eigenen Setzer und Korrekturleser. Nicht, weil sie es wollen, sondern weil manche Verlage so wenig von der „kundigen Bearbeitung durch professionelle Lektoren und Produzenten“ halten, dass sie diese lieber einsparen und die Devise pflegen: „Formatier selbst oder publizier eben nicht.“ In den Bibliotheken finden sich durchaus nicht wenige Publikationen, bei denen „eine sinnfällige Gestalt, eine brauchbare Oberfläche und eine solide Tiefenstruktur“ für die Verlage bei weitem nicht so wichtig waren, wie ein Relevanz verkündender Titel und ein entsprechend tüchtiger Preis.

Bei den Open Access-Verfahren bleibt die Zusatzbelastung des Wissenschaftlers natürlich gleich. Aber auf die schwarzen Schafe unter den Wissenschaftsverlagen ist er immerhin nicht mehr angewiesen. Das Schema der professionelleVerlag hier, der dilettantische Wissenschaftler da ist so nicht haltbar. Zudem kann man sich durchaus vorstellen, dass den Wissenschaftlern z.B. in Bibliotheken Fachleute mit dem Zuschnitt der Unterstützung im Publikationsprozess zur Seite stehen oder gegebenenfalls die Publikationsvorbereitung übernehmen. Nicht zuletzt erweist sich der Universitätsverlag, der in Deutschland eine eher geringe Tradition hat, als Möglichkeit, eine Qualitätskontrolle zu etablieren. Volker Gerhardt zeigt sich weitaus pessimistischer:

Die zuständigen Forscher werden kaum mehr als Arbeitsgrundlagen zur Verfügung stellen. Von Büchern, die man wenigstens mit Hilfe eines i-books lesen möchte, kann keine Rede mehr sein. Die Pflege der Websites ist damit noch gar nicht berührt.

Die Pflege der Websites wird doch eigentlich weitgehend sauber geleistet? Das Apple-Product-Placement wirkt dagegen etwas zu aufgesetzt. Wenn sogar das E-Book vergehen wird, dann doch lieber auf dem Kindle

Die vierte Sinkstufe bietet in der Aussage nichts substantiell anderes, als die vorhergehenden bereits enthielten. Die Ergänzung liegt darin, dass es seiner Rechnung nach billiger ist, die Bücher von Verlagen zu kaufen, als die Wissenschaftler mit dem „Sachverstand in den Verlagen“ auf eine Kompetenzstufe zu heben. Da aber im Open-Access-Kontext die ganze Vermarktungsmaschinerie entfällt, also das kaufmännische Element, spart man wieder etwas ein.

Gerechter war diese Finanzierung durch den Nutzer allemal. Doch das ist dann bereits Vergangenheit, die sich nicht zurückholen lässt, weil die Etats der Wissenschaft mit Sicherheit nicht ausreichen, um alles das zu finanzieren, was derzeit noch die Verlage bieten.

Auch hier sollte sich Volker Gerhardt einmal mit den Kollegen von der Universitätsbibliothek kurzschließen und erfragen, wie gerecht eigentlich die Preisgestaltung bei den großen STM-Verlagen ist, der die Bibliotheken und indirekt die Wissenschaftler folgen müssen.

Die Stufe Fünf entspricht dem Verlust des kulturellen Erbes. Denn ohne gedruckte Originale, so das Argument, sind die digitalen Daten verloren, wenn sie verloren gehen. Von LOCKSS oder vergleichbaren Ansätzen hat Volker Gerhardt womöglich noch nichts gehört. Das muss er auch nicht unbedingt. Aber er könnte sich durchaus denken, dass diejenigen, die sich permanent und professionell mit Fragen des elektronischen Publizierens befassen, auch die Fragen der Langzeitarchivierung von digitalen Inhalten in ihrem Wahrnehmungs- und Entwicklungsradius berücksichtigen.

Fazit

Eigentlich ist der Niedergang der Kultur, den Volker Gerhardt hier ausmalt, ein Niedergang des Verlagswesens, wie wir es kennen. So weit so schlimm. Die Frage ist, ob er überhaupt eintritt. Die Bandbreite möglicher Entwicklungen umfasst durchaus positive Szenarien, die auch Verlagen eine Rolle selbst in Open-Access-Kontexten zugestehen.

Was weitaus stärker erstaunt, ist, wie sehr hier die selbstregulierende Funktion des Kommunikationssystems Wissenschaft unterschätzt wird. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass es immer um ein Ausbalancieren zwischen dem Machbaren, dem Wünschbaren und dem Zweckmäßigen. Letzteres setzt sich für eine Weile durch, unterliegt aber permanenter Modifikation durch die anderen beiden Einflussgrößen. Eine mediale Grundform besetzte bisher immer ein bestimmtes Zeitfenster und einen bestimmten disziplinären Wirkungsrahmen als dominante Größe. Dann verlor es an Bedeutung. Das kulturelle Erbe hat dabei bisher weniger durch Medienwechsel als durch Ignoranz Schaden genommen. Mangelnde Sensibilität ist in jeder Hinsicht ein Problem. Das „Monopol“ elektronischer Medien ist genauso wenig zu begrüßen, wie das Monopol des Papiers. Noch im 19. Jahrhundert galt das Schreiben dem Reden in der Wissenschaft als nachgeordnet. Vielleicht ist es im 21. Jahrhundert so, dass die in elektronischen Umgebungen möglichen Echtzeitkommunikationen über Plattformen, die wir bisher kaum kennen, zu einer Rückkehr der Oralität in verschriftlicher Form auch in der Wissenschaft führen. Die Kritik, denn der Peer direkt an der richtigen Textstelle im Pre-Print einfügt und auf den der Autor dann wieder eingeht, sind eine sinnvolle Variante für einen unmittelbaren und lebendigen Diskurs. Nachträglich lesen muss man das eigentlich nur, wenn die Debatte wieder zu dem Punkt zurückkehrt. Man könnte es, denn es ist sauber dokumentiert. Was im Idealfall am Ende steht und bleibt, ist das geschriebene Wort. In einer erweiterten, nicht versunkenen Schriftkultur.

13 Responses to “Treffer! Versenkt!: Volker Gerhardts “bürokratischer Imperativ des Open Access” und die Schriftkultur”


  1. FAZ-Artikel leider nicht online frei zugänglich bis jetzt. –
    Volker Gerhardt schreibt vor dem Hintergrund der Publikationsgewohnheiten der deutschsprachigen Philosophinnen und Philosophen. Und die haben sich noch nicht so recht an das Internet gewöhnt. Das ist kein Vergleich zur angloamerikanischen Welt, wo man sich hin und wieder auch mit der Frage beschäftigt, wie man mehr Open Access in die Philosophie bringen könnte.

    Ein paar der Argumente haben wir ja auch schon bei Reuß lesen können, z.B. das Open Access schlecht aussieht. Angesichts der Tatsache, dass renommierte Verlage wie de Gruyter Autoren die Bücher hat selbst setzen lassen, oder dass Klett-Cotta für Professorenprosa Druckkostenzuschuss haben wollte, ist das lächerlich. Wer sich das nicht zutraut, kann sicher ein professionelles DTP-Büro mit dem Setzen seines Manuskripts beauftragen, bevor er’s als PDF auf’n Server schiebt.
    In bei den Cambridge oder Oxford University Presses erschienenen philosophischen Büchern lese ich regelmäßig von den hilfreichen Ratschlägen der zwei anonymen Lektoren, für die sich der Verfasser / die Verfasserin bedankt. Ähnliches habe ich in deutschen Philosophiebüchern noch nie gelesen, und ich bin geneigt daraus zu folgern, dass inhaltliche Lektoratsarbeit in den deutschen Verlagen nicht (mehr) geleistet wird.

  2. 2najko

    Gerade der Verweis auf die Publikationskulturen als ein nicht hinreichendes Argument greift Volker Gerhardt in seinem Beitrag auf, wenn er schreibt,

    “Die angebliche Kluft zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften, von der zu reden inzwischen das sicherste Indiz der mangelnden Bereitschaft ist, sich auf die tragenden Gemeinsamkeiten einzulassen, erklärt übrigens nichts. Denn in allen Wissenschaften wird Zeit für das Nachdenken benötigt: Überall hängt die Innovation an der Fähigkeit, die für verbindlich gehaltenen Grenzen zu überschreiten.”

    Zu den “tragenden Eigenschaften” der Einheit der Wissenschaften gehören Skepsis und Vertrauen. Solange Open Access Journale nach wirtschaftlichen Geschäftsmodellen suchen, Repositorien auf Verlage angewiesen sind und Evaluierungen auf Basis von OA an Bedeutung in der Wissenschaftspolitik gewinnen, ist Zweifel an einer Mandatierung angebracht, um den Vertrauensverlust in die OA-Publikation vorzubeugen.

    Übrigens sind Philosophen bei weitem nicht so OA-feindlich wie dargestellt. Auf dem edoc-Server der HU finden sich Postprints von zwei Kollegen Gerhardts, Prof. Uwe Müller und Leibniz-Preisträger Prof. Dominik Perler. Über die Qualität der Lektoren deutscher Verlage über die Danksagung zu urteilen halte ich für sinnlos.

  3. Hallo Najko,

    die zitierte Passage lese ich etwas anders. Denn in den Zeilen zuvor betont Volker Gerhardt die Bedeutung einer differenzierenden Betrachtung unterschiedlicher Wissenschaftspraxen. Daraus würde ich ableiten, dass er sich – worin im zuzustimmen wäre – ausdrücklich gegen ein nivellierendes Verständnis wendet, dass einzig die Verfügbarkeit eines rohen Textkorpus, möglicherweise an die Form eines Zeitschriftenartikels als Maßstab erhebt.
    Er würde also davon ausgehen, dass eine Publikationspraxis nach dem Open-Access-Verfahren, wie er es sieht, Grenzüberschreitungen verhindert. Insofern scheint mir fast, als legte er den Wortlaut der zitierten Passage den imaginierten OA-Vertretern in den Mund, die argumentieren, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften sind vor den Repositories alle gleich, denn in allen muss man ja Nachdenken. Nach meiner Lesart betont er ausdrücklich die “Differenz der Zugänge”.

    Du hast natürlich in dem anderen Punkt völlig recht: Es geht hier um bzw. gegen Mandate als eine besonders rigorose Form des Open Access-Publizierens. Nur sehe ich so etwas in Deutschland weder jetzt noch perspektivisch umsetzbar. Als ärgerlich erscheint mir, dass mit solchen Artikeln der Eindruck erweckt wird, die Mandatierung seien die einzige Option. Dies ist irreführend und dient – betrachtet man den gesamten Artikel – vor allem den Zweck, die traditionelle Verlagskultur zu verteidigen. Das mag sehr ehrenvoll sein, ist m.E. aber kaum notwendig, denn wie oben dargestellt, werden sie gar nicht attackiert. Sie sind nur aus dem Zeitgeschehen herausgefordert, das zu tun, was sie auch schon in den letzten hundert Jahren immer wieder tun mussten: veränderten Ansprüchen ihrer Kunden gerecht zu werden.

  4. Tut diese Kritik nicht Gerhardts ncht frei zugänglicher Polemik zu viel Ehre an? Schon die Beschäftigung mit einen OA-Publikationssystem wie dem Open Journal System hätte Gerhardt zeigen können, dass es bei OA nicht um den Verzicht auch Peer Reviews und Redaktion geht. Umgekehrt, fürchte ich, geht es Gerhardt um die Bewahrung von Exklusivität, und zwar mit außerwissenschaftlichen, nämlich wirtschaftlichen Mitteln.

  5. 5Kommentar zu jge

    @jge
    “… ich bin geneigt daraus zu folgern, dass inhaltliche Lektoratsarbeit in den deutschen Verlagen nicht (mehr) geleistet wird.”

    In der Tendenz ist diese Aussage sicherlich richtig, unterschlagen wir aber bitte nicht die Gegenbeispiele.
    Aus dem Vorwort von Hansjürgen Verweyen: Einführung in die Fundamentaltheologie. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2008: “Mein Dank gebührt an erster Stelle Herrn Dr. Bernd Villhauer, dem Lektor der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Er hat über das übliche Maß hinaus das Werden dieses Buches mit Kompetenz und persönlichem Engagement begleitet.”
    (Aus der Philosophie habe ich in der Schnelle nichts parat.)

  6. Der Artikel Volker Gerhardts ist mittlerweile verfügbar: Die Folgen des Publizierzwangs.

  7. I-Book ist online übrigens “e-book” — was für mich darauf hindeutet, dass es irgendwo eine mündliche Übertragung gab, entweder dieses Ausdrucks zu Gerhardt oder Gerhardt diktierend zur Weiterverarbeitung.

    Nachdem ich jetzt den Gerhardt selbst und mehrfach gelesen habe, wundere ich mich am meisten über diese Idee der Beschleunigung, der “unverzüglichen” Publikation. Bin mir nicht sicher, ob das nicht vielleicht missverstandener Reuß ist, weil der ja auch immer schreibt, dass die Veröffentlichungsfreiheit in Gefahr ist. Wie kommt Gerhardt sonst darauf, dass ein Wissenschaftler nicht mehr entscheiden dürfe, ob er veröffentlicht oder nicht?

    Siehe auch meinen eigenen Beitrag Philosoph Volker Gerhardt gegen Open Access — Warum eigentlich?.

  8. 8najko

    Hallo Ben,

    in der Tat halte ich Gerhardts Kritik an der bundesdeutschen Wissenschaftspolitik, die angeblich auf eine Mandatierung hinausläuft, für unsachlich. Die Situation an der ETH Zürich ist eine andere als, sagen wir, an der HU-Berlin.
    Der Artikel lädt aber noch zu weiteren Missverständnissen ein, wenn wir nicht Gerhardts Begriff der Einheit der Wissenschaften näher erläutern. Die wissenschaftspolitische Debatte ist geprägt von reduktionistischen oder dualisitischen Argumenten, welche sich in der OA-Bewegung fortsetzen. Entweder wird eine Fachrichtung als vorrangig angesehen nach der sich die anderen Disziplinen zu richten haben oder Natur- und Geisteswissenschaften werden als getrennte Dinge betrachtet. Im letzteren Falle wird Diltheys Trennung von Erklären und Verstehen dahingehend verklärt, dass sich aus ihr die Trennung von Publikationsformen rechtfertigen lässt, sei es die, die von klassischen Verlagen (Heidelberger Appell) getragen wird oder die der e-humanities.
    Es ist interessant, dass sich in diesem Punkt OA-Gegner und OA-Befürworter in ihren Argumenten gleichen. Sie schaffen Grenzen, die sie wissenschaftspolitisch zementieren wollen. Gerhardt setzt hier mit seiner Kritik an: Er denkt wissenschaftliche Arbeit und öffentliche Rechtfertigung als Einheit, d.h. dass keine wissenschaftliche Disziplin einen priviligierten epistemologischen Zugang zu den Dingen hat, wenn es heißt, die Erkenntnis in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen und auf praktische Probleme anzuwenden. Er ist somit einem neutralen Liberalismus verpflichtet, der reduktionistische oder dualistische Strategien als demokratiegefährdend ablehnt.
    Wissenschaftliche Erkenntnis steht immer unter Rechtfertigungszwang. Ein Verweis auf Diszplinspezifika in der öffentlichen Debatte, wie die Diskussion um OA eine ist, kann demnach nichts begründen, sie ist sinnlos.
    Mehr hier: http://www.bpb.de/publikationen/9HMGU4,0,0,Die_Einheit_des_Wissens.html#art0

  9. Eben habe ich den Artikel der FAZ gelesen, nachdem er ein paar Tage in meinen Browser-Tabs herumgeisterte. Interessante Thesen, doch leider nicht sonderlich stichhaltig.
    Ich sehe nicht wieso Open Access den Publikationszwang erhöhen soll. Dieser ist jedenfalls für die Naturwissenschaften ohnehin schon enorm, da die Zahl der Publikationen und vor allem auch die Zitationen als Maß der Reputation und auch als Grundlage für Forschungsgelder dienen. Open Access würde diesen Zwang nicht erhöhen, sondern nur dafür sorgen, dass es Wissenschaftlern, die sich in Randbereichen des temporären Mainstreams bewegen erleichtert wird zu publizieren, da es im Netz keine mengenmäßige Beschränkung der Veröffentlichungen gibt.
    Der Zwang zum möglichst schnellen Publizieren ist also schon längst gegeben, durch OA wird er nicht zusätzlich verstärkt. Jedoch wird es für alle ermöglicht und das ist begrüßenswert, da so ein schnellerer Austausch von Wissen zustande kommt, was die Forschung nur befruchten kann.

    Ergebnisse selbst ins Netz stellen, ohne kundige Bearbeitung und Lektorat? So lautet eine weitere Annahme Gerhardts. Sicher, aber das kann jeder nach Belieben schon längst machen. Auf der eigenen Institutsseite oder privat. Nur sind das dann auch keine wissenschaftlichen Publikationen, sondern allenfalls Berichte des Forschungsstandes. Wissenschaftliche Publikationen bedürfen des peer-reviews und daran wird auch OA nichts ändern. So wird es offizielle Plattformen geben, auf denen gesichtere Artikel zu finden sind, die sehr wohl kritisch gegengelesen wurden.

    Was sollen die Zeitschriftenverlage dann noch herausgeben? Nun, es wird in absehbarer Zeit noch genug Textmaterial geben, welches auch im Print publiziert werden will. Vielleicht sollten Verlage auch stärker dazu übergehen Jahressammlungen herauszugeben. So könnten die wissenschaftlichen Artikel, die sich nach einiger Zeit als besonders relevant und wertvoll herausgestellt haben in Jahresbüchern erscheinen um so in den Bibliotheken bereitzuliegen.

  10. Hallo Najko,

    Volker Gerhardt veranstaltet demnächst auch eine Tagung zum Thema. Ich glaube aber nicht, dass es darum geht, eine Disziplin in ihrem Zugang zur Erkenntnis einer anderen gegenüber vorrangig zu sehen, sondern schlicht darum, dass sich innerhalb der zweifellos existenten unterschiedlich gerichteten Wissenschaftsgemeinschaften auch unterschiedliche Praxen der Wissenschaftskommunikation gibt.
    Das die Setzung Geistes- vs. Naturwissenschaften mehr eine Tendenzfestlegung denn eine unumstößliche Regelung darstellt, ist hoffentlich Allgemeinwissen. Das es Übergänge, Durchlässe, Schnittmengen und Kontinuitäten gibt, weiß jeder, der wissenschaftlich interessiert ist.

    Um zu funktionieren, muss aber die fachliche Komplexität in irgendeiner Form organisiert werden. Dies geschieht über praktizierte innerwissenschaftliche Kommunikation. Wenn ich von Geisteswissenschaften oder Naturwissenschaften rede, dann basiert dies auf einer idealtypischen Abstraktion von spezifischen Kommunikationsweisen, nicht auf einer epistemologischen Zuweisung. Der Wissenschaftler bewegt sich in seiner Wissenschaftspraxis weitgehend in einem mehr oder weniger explizierten Regelwerk bestimmter legitimer Kommunikationsformen und kann meist nur bedingt darin variieren. Wenn es darum geht, Open Access-Modelle zu entwickeln, müssen diese Kommunikationspraxen mit ihren jeweiligen Ansprüchen berücksichtigt werden. Erkenntnistheoretisch mag man also gern von einer Einheit der Wissenschaften ausgehen. Nur spielt dies m.E. in der Debatte um Open Access keine Rolle. Hier bewegen wir uns auf der kommunikationspraktischen Ebene. Hier geht es darum, die Vielfältigkeiten und Eigenheiten disziplinärer Kommunikation anzuerkennen und in entsprechenden Modellen zu würdigen. In der konkreten Umsetzung sollte man dies vermutlich sogar granularer tun und damit auch den Dualismus Geistes- und Naturwissenschaften umschiffen.

  11. Es ist nur eine Randnotiz, aber natürlich gehört es gerade auch zu unserem Fach, Diskurse auch langfristig im Auge zu behalten. Im April äußerte sich Volker Gerhardt in einem Interview mit der taz kurz zum Thema Open Access:

    “Die Internet-Publikationen vieler Bücher dürften im Verborgenen bleiben und auf Dauer verloren sein, wenn die Technik, sie zu lesen, nicht mehr zur Verfügung steht. Auf die Gefahren, die hier mit dem open access gegeben sind, habe ich wiederholt aufmerksam gemacht.” (“Das Neue scheint immer das Wichtigste zu sein”

    Er vertritt dabei die recht selten gehörte Verbindung der Position der Sorge um die Langzeitarchivierung, die bei elektronischen Medien nahe liegend und berechtigt ist und dem Konzept des Open Access, bei dem dieser Aspekt aber insofern sekundär sein muss, da die Nicht-Lesbarkeit digitaler Dokumente ja sämtliche elektronisch publizierten Texte betreffen muss. Daher wäre ein Schluss Open Access=unsichere Lesbarkeit ein sehr verkürzter. Zudem scheint er wenig Vertrauen in den immerhin jüngst noch einmal explizierten Forschungsschwerpunkt “Digitale Langzeitarchivierung” (vgl. auch hier) des Lehrstuhls Digitale Bibliothek am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft immerhin der Universität zu haben, an der er auch selbst lehrt.

  1. [...] die aktuelle Diskussion zum Thema Open Access, Verlage, Urheberrecht etwas gründlicher angehen und nachvollziehen möchte, [...]

  2. [...] zum Heidelberger Appell und auch Volker Gerhardts Überlegungen zum Open Access (vgl. dazu auch hier) [...]

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