Hyperakzeleration, neue Medien und was man darüber so denken kann

Zum “Wer drängt uns denn?” meines jüngsten Kommentars zur Medialisierungsfalle habe ich noch ein paar Fragen nachzureichen, die vielleicht ganz gut in die Debatte darüber, ob die um sich greifende Durchsetzung diverser Lebensbereiche mit digitalen Technologien und den damit verbundenen kommunikativen Mustern, nicht doch eine Technikfolgenabschätzung benötigt.

Immerhin zwingt jetzt sogar das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seine Mitarbeiter zum Blogschreiben, als ob es nicht so schon oft genug Probleme hat, die Seiten mit wertigen journalistischen Texten zu füllen.

Nach der denkbar kleinstkarierten Schelte, die Martin Ruff mit klappentextuellen Wittgenstein-Kenntnissen durchsetzt am Montag dem Deutschlandfunk zu dessen Sprachverfall auf der FAZ-Medienseite vorlegen durfte (“Der Deutschlandfunk funkt oft daneben”, Ausgabe 01.12.2008, Seite 38), kann man durchaus vom Glauben an den Qualitätsjournalismus abfallen. Sie wissen anscheinend gerade wirklich nicht, was sie tun. Macht nichts. Wenn ein FAZ-Medienbetrachter den DLF abschreibt, ist der noch lange nicht abgehört. Bei solcher Kritik gerät leicht in Vergessenheit, welch hohes Niveau die FAZ insgesamt immer noch auszeichnet. Sie bringt Thomas Bernhard im Vorabdruck, Interviews und samstags die Frankfurter Anthologie, manche Glosse kann sich lesen lassen, die Hintergrundberichte sind oft erhellend, der aktuellen Berichterstattung mangelt es weder an Ausführlichkeit noch an Spaltenplatz. So richtig überzeugend gelingt die Ruff-Analyse auf die FAZ bezogen leider nicht… Und ein Rudolf Stichweh hat auch nicht jeden Tag Zeit, um einen Beitrag für das Blatt zu schreiben.

Heute aber schon und zwar “über die gegenwärtigen Beziehungen zwischen den Natur-, den Geistes- und den Sozialwissenschaften” (Seite N7 – die Wissenschaftsbeilage ist aus gegebenem Anlass etwas dicker). Eigentlich schreibt aber auch er nicht für die FAZ, sondern diese nutzt eine Rede nach und zusätzlich schürft er auch nicht übermäßig tief. Immerhin entsteht der wertvolle Eindruck, dass es doch mitunter Beiträge gibt, die dem Medium Tageszeitung so angemessen sind, dass man gern länger (und offline) am Frühstückstisch sitzen bleibt. Bei der Gelegenheit kann man sich gleich mal als Nachschlag die Fragen, die ich hier aus der Augustausgabe (03/2008) der Zeitschrift Information Philosophie (S.44) notiere, zur Honigsemmel und zum Nachdenken vornehmen und sich in ein wildes Denken und gern auch – dafür ist die Kommentarfunktion gemacht – wildes Diskutieren stürzen.

Dort formuliert nämlich der Jenenser Soziologe Hartmut Rosa im Rahmen einer Diskussion zum Verhältnis von Anthropologie und Politischer Theorie im Anschluß an seine beschleungigungstheoretischen Überlegungen (Slippery Slope) einerseits seine Zweifel, dass wir durch wachsende Kommunikationsgeschwindigkeit und umgreifende -technologie körperlich Schaden nehmen:

“Ich rate [...] einer normativ interessierten politischen Theorie im Beschleunigungsdiskurs davon ab, nach anthropologischen Grenzen zu suchen.”

Der flexible Mensch schafft es kognitiv am Ende schon, so wie er auch das Fahrradgesicht ohne Gehirnerweichung überlebt hat. Andererseits meint Rosa zurecht, dass es wichtiger ist, darüber zu diskutieren, ob er diese Flexibilität auch möchte:

“Stattdessen sollte sie [die politische Theorie] danach fragen, ob wir als Subjekte höhere Geschwindigkeiten wollen können:
Was bedeutet etwa weitere soziale Beschleunigung für unsere Konzeption von Selbstbestimmung und Freiheit? Für unsere Leitwerte von Autonomie und Athentizität? Für unsere Chance, eine stabile Identität zu entwickeln und zu erhalten?
Letztlich führt das natürlich wieder auf die anthropologische Frage nach dem guten Leben zurück: Was sind die Bedingungen, unter denen Subjekte ein (nach ihren eigenen Kriterien) ‘gutes Leben’ führen können? Welche Bedingungen hindern sie daran, ihre Konzeptionen des gelingenden Lebens zu verfolgen und zu verwirklichen?”

Der Hyperakzeleration schreibt Rosa jedenfalls das Potential zu, eine der soziale Rahmenbedingungen zu sein, “die ein gutes Leben der Subjekte vereiteln”.

Digitale Medien treten bislang weitgehend als Beschleunigungsmedien in Erscheinung. D.h. ihre Vorzüge liegen in beschleunigenden Effekten.
Damit wird die Frage der Beschleunigung für alle, die mit Medien zu tun haben, also auch für Bibliotheken, relevant. Digitale Medien reichern tatsächlich an, zunächst einmal Masse. Sie sind demnach Häufungsmedien in Hinblick auf die Menge der Inhalte, die Möglichkeit, Inhalte zu publizieren, die Frequenz mit der Inhalte publiziert werden. Ist etwas möglich, so wird es sehr wahrscheinlich auch bis zu den Grenzen der Möglichkeit genutzt. Das kann man sich als eine Art informationelles Peter-Prinzip vorstellen. Unglücklicherweise – da fehlt uns das Semantic Web bisher mächtig – häufen Medien die qualitativen Aspekte des Ordnens und Erschließens selten in einem Umfang, der den Intellekt nennenswert von entsprechender Mühe entlastet. Eher gilt das Gegenteil. Lesen und Verstehen bleiben zeitaufwendige, manchmal schöne, manchmal lästige Begleiterscheinungen des informationellen Alltags. Der korrespondierende Aufwand ist generell wohl als steigend zu bewerten.

Selbstverständlich tragen die Digitalen Medien daran ihre Mitschuld. Sie sind nämlich zunächst einmal auf quantitatives Wachstum gerichtet. Sie dienen demnach als wertfreier Container für etwas Unbestimmtes, das alles Mögliche und vor allem sehr viel davon sein kann.

Eine normative Qualitätsdebatte lostreten zu wollen ist jedoch genauso unsinnig, wie die Suche nach den anthropologischen Geschwindigkeitsgrenzen. Jedoch kann man annehmen, dass bestimmte Beschleunigungen (6 G) und Geschwindigkeiten (Lichtgeschwindigkeit) physiologisch deutlich wirksam sind. Wie solche Zustände im Informationsaufkommen abbildbar sind, ist unglücklicherweise bisher wenig untersucht.

Dennoch ist die reine Eingrenzung der Betrachtung von Medien auf ihr Containerdasein auch wieder fruchtlos. Medien wirken zweifellos über das Aufbauen von Beziehungen, vielmehr erzeugen sie Beziehungen (Relationen) zwischen den Inhalten und den Medienrezipienten. Sie sind Kanäle und der Gedanke an das Sender-Kanal-Empfänger-Modell der Kommunikationstheorie positioniert sie schon richtig. Wenn wir über Medien und ihre Beschleunigung reden, betrachten wir also die spezifischen Qualitäten eines Kanals. Da auf digitaler Ebene das Rauschen – man kennt es noch vom x-fach Oversampling, neben der Taktfrequenz des PCs und der Wattzahl des Staubsaugers die Statuszahl technischer Alltagsgeräte in den frühen 1990ern – auf ein Minimum reduziert wird, gilt die Aufmerksamkeit vermutlich besser dem Durchsatz der Botschaften und zwar hinsichtlich Masse und Frequenz (und der Redundanz natürlich). Dass dieser bei digitalen Netzmedien tatsächlich bis zu einem das menschliche Wahrnehmungsvermögen überschreitenden Maß leicht realisierbar ist, weiß jeder, der mehr als zwei aktive Mailinglisten abonniert hat.

Das Zuviel des Guten ist also gut möglich, während das vordigitale Zeitalter am Zuwenig litt. Leider hat ein eher schlichtes, ein Prinzip im Stile des „Viel hilft viel“ zum Leitbild erhebendes, Verständnis der Kommunikationsökonomie dazu geführt, dass die anachronistische Vorstellung des Mangels uns auch dort leitet, wo derselbe besiegt scheint: Bei der Ernährung und bei der Kommunikation. Interessanterweise kann man viel essen und dennoch (qualitativ) mangelernährt sein.

Ich denke die These, um die ich hier gern eine Diskussion spinnen möchte, wird langsam deutlicher: Mediale Möglichkeiten nur quantitativ und unter dem Primat der Steigerung bzw. Optimierung zu denken, hat bestimmte Folgen, die eventuell dem, was man unter einem „guten Leben“ versteht, entgegenwirken. Konkret bedeutet dies, dass die schon vor Jahren beklagte Informationsüberlast, die allerdings oft nur ein Scheitern an der begrenzten Ressource Zeit ist, dem Individuum die Herausbildung stabiler Orientierungsparameter erschwert. In einer idealen Welt bliebe ausreichend Zeit, alles genau zu prüfen und dann zu entscheiden und zwar mit der Dauer, dass man am Ende doch irgendwann entscheiden muss. Die Ewigkeit dagegen zwänge zu nichts. Wer kann das schon wollen? Endlichkeit ist unsere größte Stärke, nur zeigt sie sich leider oft am Ende zu früh. Die Plage in einer semi-idealen Welt ist dagegen, dass man viel zu wenig Zeit hat, um genau geprüft zu entscheiden und daher freut man sich über den Boom der Intuition (wahlweise auch: des Bauchgefühls). Passt manchmal, nicht immer.

Da Zeit z.B. notwendig sind, um “Authentizität” und “Autonomie” als Basiselemente des „guten Lebens“ zu entwickeln, wird das mit den Netztechnologien verbundenen Heilsversprechen einer Befreiung durch Partizipations-, Vergleichs- und Entscheidungsmöglichkeiten tatsächlich nicht mehr eingelöst. Every weblog its reader? Stimmt im Netz nicht ganz. Every reader his weblog? Technisch ja, aber es will vielleicht nicht jeder, weil er beispielsweise schon mit dem Lesen der FAZ-Blogs beschäftigt ist…

Die Folgen der Intensität sieht man durchaus in Bereichen, die nur mittelbar von den Digitalmedien betroffen sind: die Option eines multiplexen Instant Messaging führt, wenn denn der Tipping Point erreicht ist, zu einem Sozialdruck, dem man sich beugen muss, um weiter an Kommunikationen bzw. dem Sozialleben teilhaben zu können. Wenn man älter wird oder die Freunde einfach so vom StudiVZ zum Facebook abwandern, muss man mit oder man bleibt buchstäblich zurück. Die Seiten mit den Sozialen Netzwerken, die obendrein das Bedürfnis nach Sozialität als Geschäftsmodell nutzen und entsprechende Interessenlagen pflegen, versprechen zwar, dass man dort schnell und unkompliziert neue Kontakte findet, sind aber erfahrungsgemäß oft bereits schlichtweg notwendig, um bestehende zu halten. Die Alternative wäre ein Ausstieg entweder mit und zu Gleichgesinnten (wenn man Glück hat) oder in die Isolation. Die technischen Möglichkeiten bleiben nicht Option, sondern sie werden Notwendigkeit. Alternativlos. Sachzwang. Dabei lässt sich der freie Mensch doch ungern von Sachen zwingen..

Nicht selten zwingen die Sachen gar nicht, sondern es ist eine unsichere Vorstellung, von dem, was die Sachen sollen und können und wann sie passen und wann nicht, die einen selbst den Zwang ausüben lässt.
Darin liegt der bittere Kern: Es wird kaum und mit wenig Nachhall reflektiert, was das, was verdrängt wird, an eigenen Qualitäten besitzt, und ob das eine, womöglich überholt scheinende, nicht in manchen Zusammenhängen zweckmäßiger wäre, als die Nachfolgeform. Unterschied wie Zusammenhang zwischen dem Folgen und den Folgen können sehr groß sein. Die Betrachtung der medialen und der damit verbundenen sozialen Beschleunigung wird in sehr vielen Diskursen im Medien- und auch im Bibliotheksbereich aus einer sehr eingeschränkten Perspektive geführt. Die Rechnung lautet streng und alternativlos ökonomistisch Mehr mit Weniger zu schaffen. Auch dies ist nicht unendlich steigerbar.
Was Kommunikationen angeht, gelingt es aber momentan auf einer quantitativen Ebene in digitalen Kommunikationsnetzen mit leichter Hand. Ich schreibe mit meinen Weblogs mehr Text denn je. Aber in welchem Verhältnis steht die Häufung zur Wirkung? Wann kippt die qualitative Vielfalt angesichts der Häufigkeit (und Redundanz) in Beliebigkeit?

In dem genannten ZEIT-Artikel zitiert die Autorin drei Verhaltens- und Konsumweisen des modernen, computergestützten Kapitalismus, wie sie Benjamin Barber nicht unbedingt sonderlich originell an einen allgemeinen Platz rückend bestimmt:

- leicht vor schwer,
- einfach vor komplex,
- schnell vor langsam.

Man kann noch viel vor wenig ergänzen. Es bleibt Unsinn. Denn man benötigt für das „gute Leben“ immer beides: leicht und schwer, einfach und komplex, schnell und langsam, viel und wenig. Dies zusammengeführt trifft dann genau das individuelle Maß dessen, was man gut verarbeiten, rezipieren, erleben, genießen, durchleiden kann. Every reader his book. In der Konsequenz ist auch das nur ein unerreichbares Shangri La der Informationsversorgung. Aber immerhin ein positives. Etwas angenehm anderes als: Es tut uns leid, aber wir müssen auch mit der Zeit gehen. … Die allzu leichte Externalisierung von Verantwortung sollte man vielleicht auch mal als Ordnungswidrigkeit bewerten, da sie die Ordnung des sozialen Gefüges deutlich und nachhaltig stört.

Was also in jeder Handlungsumgebung und damit in jeder Kommunikationsumgebung gewährleistet sein muss, ist die Option auszubalancieren, abzubremsen, die Komplexität zu erhöhen, das Schwierige einfach nachzulesen.
Aus diesem Grund ist jede Ausschließlichkeit abzulehnen. Wir müssen subjektiv entscheiden und umsetzen können was wir wollen. Die von Rosa angesprochenen höheren Geschwindigkeiten (höher im Vergleich zu was?) gibt es deshalb, weil alle mitspielen. Sie sind kaum Naturgesetz. Manchmal womöglich notwendig, für „Leitwerte von Autonomie und Authentizität“. Dann sollten wir sie wollen können. Wir sollten sie aber auch ablehnen können, wenn wir etwas anderes brauchen.

Vielleicht ist die Flexibilität, die die digitale Beschleunigungstechnologie verspricht, da wir mit ihr mehr bündeln können, mehr kommunizieren können, mehr speichern können, einfach nicht flexibel genug, weil sie es verbietet, ein Weniger mitzudenken, wenn es notwendig wird.

Und jetzt weg vom Küchentisch und ran ans Tagwerk…

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