Vielleicht als LAN-Partyzelt? Wie man in Großbritannien über Bibliotheken denkt.

if there is nothing inside but people eating burgers and playing the Sims, is it actually a library? Isn’t it just an internet cafe?

fragte am gestrigen Sonntag nicht ganz unberechtigt Victoria Cohen im Observer (If I wanted a cup of coffee, I’d go to a cafe, not a library) Der Anlass für dieses Nachhaken liegt in einer Äußerung des aktuellen Secretary of State for Culture, Media and Sport in Großbritannien, Andrew Burnham, ein Kind der 1970er Jahre und entsprechend vermutlich schon seit frühester Erfahrung mit Unterhaltungselektronik vertraut. Das ist nicht ganz unwichtig, um seinen Standpunkt zu verstehen, der Victoria Cohen immerhin zu einer Kolumne inspirierte und darin beruht, dass Bibliotheken über das Regal hinaus schauen sollten:

“Andy Burnham insisted that libraries must ‘look beyond the bookcase’.”

Sie sollten viel mehr zu Orten von Ausgelassenheit und fröhlichem Austausch (“joy and chatter”) werden. Oder in anderen Worten, um ein oft genutztes Wort in selten genutzter Bedeutung ins Spiel zu bringen: much gayer than today. Die Zeiten der ernsten Schwere (“solemn and sombre”) sollen denen der Geselligkeit weichen. Die Berufung der Bibliotheken, so Burnham, findet sich im Gegenmodell “to the isolation of someone playing on the internet at home”.

Jemima Lewis bringt ihre Zustimmung im Telegraph zum Ausdruck, denn – the truth hurts – die Ausleihzahlen sinken im Vereinigten Königreich (um 34 % in den letzten zehn Jahren) und die Zahl der Bibliotheken sinkt ebenso (um 40 im letzten Jahr). Die Zeiten des Buches sind ganz offensichtlich vorbei:

“People no longer want, or need, to borrow books.”

Denn, so die Buch- und Bibliotheksgeschichtlerin des Telegraph, die öffentlichen Bibliotheken waren ein Angebote für die aufstrebende Arbeiterklasse ohne Geld für Bücher aber mit dem Hunger nach Bildung und dem Durst nach Wissen und dem Willen zur Autodidaktik. Vorbei, meint Lewis und der Leser ist sich nicht mehr sicher, wie ernst ihr das Ganze ist, denn als Gewährsleute bringt sie die Band mit dem Namen Kaiser Chiefs auf die argumentative Bühne und zitiert: “it’s cool to know nothing” als Refrain der aktuellen Zeit. Und sowieso ekelt sich der Durchschnittsbrite vor möglichen Spuren der Vorleser eines potentiell ausleihattraktiven Buches.
Nicht das Medium Buch kann es sein, überspitzt sie Burnham, sondern die Community, die Krabbel- und Strickgruppen, die die Bibliotheken füllen. Die Bibliothek ist der Begegnungsort in einsamen Zeiten und so bürstet sie den Intellektualismus aus den Häusern und führt stattdessen die zeitlos schöne nachbarschaftliche Beziehung hinein:

“Local libraries may have lost their original raison d’être, but they can fashion another. They should give us what we really want: not scholarship, but friendship.”

Aber haben wir unsere Freunde nicht schon bei MySpace?
Victoria Cohen orientiert sich ebenfalls auf das Füllen der Räume und greift sich bei der Gelegenheit das Service-Paradigma. Dies allerdings nicht, um hier den neuen Weg zu postulieren, sondern um das Problem zu benennen:

“where does it end for the library which believes that books don’t get bums on seats?”

Wo zieht man die Grenze? Cohen zirkelt gleich verschiedene Optionen in den Raum, in dem die Gedanken frei sind:

“They could put a doner in the window and be full every night. They could sell cars. They could have Peter André performing weekly.”

Hört, hört! Peter André ist ganze drei Jahre jünger als Andy Burnham, im Gegensatz zu diesem mit Katie Price verheiratet und vermutlich aktuell sogar für solche Ereignisse frei. Aber würde er wirklich noch die Massen ziehen? Oder bedarf es da einer Kombination à la Peter André Rieu? Und vor allem:

But then it wouldn’t be a library and what would be good about anyone going in?

In diesem Fall offensichtlich wenig. Cohen akzeptiert aber auch etwas Internet und stimmt auch mit dem “heart of community”-Ansatz überein. Nichtsdestotrotz hält sie zugleich am Buch fest und erschreckt über eine nicht unwichtige Aussage Burnhams, die im Telegraph nicht zitiert wird:

Burnham says that more library funding would ‘not be realistic in the current climate’.

Charlotte Leslie vom Politics Blog des Guardian sieht hinter Burnhams Ansinnen, abgesehen von generellen klimatischen Störungen, nicht nur eine Abkehr vom Medium Buch, sondern ein Abschied vom Denken (In defence of silence):

it is in essence undermining the necessity of deep and complex thought that requires peace and quiet.

Den Haken ihrer Argumentation schlägt sie also in den Raum der Stille und Kontemplation, was übrigens auch übertragen gemeint ist, und zwar an der Stelle, an der Schwatzhaftigkeit der Kenntnis und Gegenwartsgenuß der Vergangenheitserkundung entgegengeworfen wird:

“It is being offered a lift on to the shoulders of giants, and saying: “No thanks, I’m staying down here, and mine’s a medium latte.”

Immerhin spricht die Kurzzeitstatistik für den Latte Macchiato für die Coffee Shopper:

in Hillingdon, West London, book borrowing increased by 32 per cent when a Starbucks was built in one of the libraries, and there is now a formidable seventeen more Starbucks on the way to the seventeen other libraries in the area.

Freakin’ delicious. Aber am Ende oberflächlich, auch im Geschmack. Warum, so fragt Leslie, nicht ein Café neben dem Lesesaal und wer will, kann sein Buch mit dorthin nehmen. Den Verlust der Stille interpretiert sie als Diskriminierung, nimmt er doch bestimmten Gesellschaftsschichten den Zufluchtsort aus einer lärmenden Alltagswelt. Wer es sich leisten kann, zieht sich in die Ruhe seiner privaten Landhausbibliothek zurück. Wer dies nicht kann, bekommt den Kübel Krach, und Platitüden in den öffentlichen Raum gegossen, der lange das Ausweglos z.B. in den höheren Bildungsweg darstellte. Dort, wo Bildung und Anspruch hoch sind, gibt es sie noch, die Orte des leisen Gedankens:

Silent libraries will become the preserve of top universities only. Burnham will be dragging us back to before the age of improvement, to a time when only the elite could afford silence.

Aber gelangt man überhaupt noch dorthin, wenn man schon vorher intellektuell nicht für voll genommen wird:

Burnham’s declaration of war on silence and history is also a veiled insult to the public, who, he assumes, have somehow become terminally incapable of accessing or understanding the kind of material their parents were able to understand, and can only digest chatter and entertainment-learning.

Und wenn an schon einmal beim Paradigmenwechsel ist, kann man auch gleich die neue Zeit feiern. Jedenfalls ruft Andy Burnham in seiner diese wunderbar rege Debatte zur Zukunft der öffentlichen Bibliotheken anstoßenden Rede ausdrücklich dazu auf:

There are some incredibly interesting things going on in our public libraries, far removed from the stereotype of dusty books and silence, that we should celebrate.

Schaut man sich dann die Gründe zum Feiern, finden sich die üblichen Verdächtigen, die auch schon aus vielen Bibliothek 2.0-Diskussionen wenig konkretisiert durch die Diskurse wabern: Gebt der Öffentlichkeit was sie möchte; modernisiert die Bibliothekare; eher neu:das E-Book – was können Bibliotheken damit tun? usw.

Aber: Die Frage, ob “Shhh” oder “Schlürf” gilt aber auch seitens der Politik zunächst erst einmal als zur Diskussion freigegeben und noch nicht als beantwortet:

“And, linked to that, should libraries be silent places for reading? Or should they be social places for people to meet and discuss, perhaps with coffee shops or internet cafes?”

Am Ende ist sie selbstverständlich müßig, denn konsequenterweise müssten auch die Vertreter einer radikalen Kundenorientierung denen, die es gern leise haben, den entsprechenden Raum einräumen. Andererseits kann man es nicht allen recht machen, und so schwebt die dunkle Wolke aus Bällebad und “turning libraries into fish and chip shops” über den Gemütern, die von Buch und stille Bibliothek nicht lassen wollen und z.B. Independent lesen und glauben, das Akzeptanzproblem könne man mit längeren Öffnungszeiten lösen.

Ob Coffee Shop oder nicht das sei, so behaupten spitze Zungen aus dem Inselreich, in Wirklichkeit überhaupt nicht, worum es in Burnhams Brandrede ging. Sie sprechen von einem Ablenken von der chronischen Unterfinanzierung der Bibliotheken, die als beliebte Sparquelle auch im Königreich herzuhalten gewohnt sind, und deren Buchbestände zwangsläufig so dürftig sind, dass sie 34 % weniger entliehen werden. Und das eine kommunale Kaffeestube sogar Einnahmen produziert. Und dass es sich in Burnhams Argumentation um eine dürftig kaschierte (“straightforward lying with management jargon“) Legitimation einer verfehlten Bibliothekspolitik handelt.

“A spokesman at the Department of Culture, Media and Sport said the Government wanted to transform the atmosphere of libraries to make them more similar to Waterstones stores.”

Ganz einfallslos greift man also erneut zum beliebten Benchmark des modernen Buchhandels. Der wirbt auf der Webstartseite auch gleich mit massiven Sparangeboten (“save an extra 10%”, “half price”, “you save”, “killer prices”) und liefert nebenbei auch den originelleren Slogan zur Bibliotheksentwicklung: Cheap laughs! Up to 30% off

Besser wir kehren an dieser Stelle zur Eingangsfrage zurück:

“if there is nothing inside but people eating burgers and playing the Sims, is it actually a library? Isn’t it just an internet cafe?”

Wer Lust dazu verspürt, darf sie gern in einem Kommentar beantworten.

2 Responses to “Vielleicht als LAN-Partyzelt? Wie man in Großbritannien über Bibliotheken denkt.”


  1. 1Joh

    Gegenfrage: Warum sollte jemand noch in die Bibliothek gehen wenn es da nicht einmal Burger, Spiele und Internet gibt?

  1. [...] am Autoren der WELT vorbeigegangen ist, ist die aktuelle Burnham-Debatte in Großbritannien (vgl. hier) und auch die jüngere Berliner Bibliothekspolitik, sonst würde er kaum von “Büchereien, [...]

Leave a Reply

You must login to post a comment.