Das Berufsbild in der Literatur – Teil 3


- Der Hauswirt sitzt in seiner Wohnung bei offener Tür. Das ist wie ein Büro, mit einer Theke. Nur daß über der Theke kein Glas ist, sondern Maschendraht. Da muß man ihm die Miete hindurchreichen.
- Weiter bin ich nicht mitgegangen.
- Es ist nicht, daß ich vor dem Zimmer Angst habe. Schaben sind bei uns ja auch. Auch nicht vor dem ältesten Bruder. Ich habe Angst, die Mutter ist unfreundlich zu mir. Als wenn ich an allem schuld wäre.
- Francine ist jetzt viel besser im Unterricht.
- Ich habe ihr die Städtische Bücherei in der 100. Straße gezeigt, und bin mit ihr hingegangen, weil sie allein nicht wollte. Dann hat die Bibliothekarin ihr sofort eine Karte gegeben und gesagt, sie darf da lesen und auch schreiben, zu den festgesetzten Öffnungszeiten.
Die sind ja nicht immer.

Im Eintrag zum 23. November 1967 findet sich in Uwe Johnsons magnum opus Jahrestage die Beschreibung, welche Marie Cresspahl, die 10jährige Tochter der Protagonistin Gesine Cresspahl von einer Mitschülerin Francine gibt, die ihm Rahmen einer Art “Affirmative Action” auf diesselbe katholische Privatschule in New York geht, jedoch aus sehr armen Verhältnissen stammt. Anlass der Beschreibung, die Marie ihrer Mutter gibt, ist die Begegnung mit dem Mädchen am U-Bahnausgang an der 96.Straße:  “Sie steht da halbe Nachmittage”, “Sie steht da, denn sie kann nicht nach Hause.”, “Zu Hause ist sie mit drei Kindern in einem Zimmer, und noch einer Mutter”, “Die Kinder sind zwei Brüder, fünfzehn und anderthalb Jahre, und eine Schwester von vierzehn. Es sind nur zur Hälfte ihre Geschwister, auch sie hat einen Vater für sich.”

Das Mädchen orientiert sich auf Marie, denn es wurde in der Klasse neben sie gesetzt, und überschüttet mit einer Dankbarkeit für die Zuwendung, die Marie nicht nur irritiert, sondern geradezu abschreckt. Insofern scheint es nachvollziehbar, dass Marie die schulischen Erfolge von Francine mit dem Besuch der Bibliothek, die als Arbeits- und Rückzugsraum ins Spiel gebracht wird, und nicht mit eigener Hilfe verknüpft. Auffällig daran ist, dass Francine sofort und ohne Probleme die Nutzung erlaubt wurde, mit der einzigen Einschränkung der Öffnungszeiten: für Francine eine Alternative zum Verwarten der Nachmittage auf der Straße (“Nach oben geht sie nur, wenn ein Erwachsener auf der Treppe ist, dem sie traut.”, “Sie traut aber wenigen. Da sind viele, die haben es mit Rauschgift, oder mit Wermut oder mit … ich weiß das Wort nicht.”), ein alternativer Rückzugsraum und gleichzeitig die Möglichkeit eine Bildung zu erweben, die ihr vielleicht hilft, ihrem bedrückenden Lebensumfeld zu entkommen. Johnson entwirft also mit dieser winzigen Passage eine sehr treffende Anspielung auf einen gesellschaftlichen Uranspruch der Public Libraries: das Bieten von Chancen und die Rolle als Supplement zur Bildungsinstitution Schule. Und das sollte hier mal kurz notiert sein.
(Zitat aus: Johnson, Uwe: Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2008. S. 309-313)

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