IBI-Weblog » Joachim Losehand http://weblog.ib.hu-berlin.de Weblog am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin Wed, 28 Jun 2017 08:24:09 +0000 en hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.0.4 Die Freiheit im Digitalen: Ein Text zum Open Access im Freitag. http://weblog.ib.hu-berlin.de/p=6984/index.html http://weblog.ib.hu-berlin.de/p=6984/index.html#comments Wed, 20 May 2009 10:20:48 +0000 Ben http://weblog.ib.hu-berlin.de/?p=6984 Es wird nicht viel Wasser den Fluss hinabfließen, bis Open Access auch in den Geisteswissenschaften weltweit zum Standard wissenschaftlichen Publizierens wird – ganz ohne „technokratische Machtergreifung“ und äußeren Zwang. Ich als Altertumswissenschaftler brauche schon heute gedruckte Bücher und Open Access – und Verlage mit im Boot, die mir beides ermöglichen. Hier sind wir wieder im [...]]]>

Es wird nicht viel Wasser den Fluss hinabfließen, bis Open Access auch in den Geisteswissenschaften weltweit zum Standard wissenschaftlichen Publizierens wird – ganz ohne „technokratische Machtergreifung“ und äußeren Zwang. Ich als Altertumswissenschaftler brauche schon heute gedruckte Bücher und Open Access – und Verlage mit im Boot, die mir beides ermöglichen.

Hier sind wir wieder im freien Prognostizieren. Joachim Losehand rechnet heute im Freitag seine Rezeptionspraxis hoch und es ist natürlich schwer, ihm nicht Recht zu geben. (Losehand, Joachim: Der Zwang zur Freiheit. In: Freitag online. 20.05.2009 05:00) Allerdings muss man nicht unbedingt mit dem Revoutionsvokabular mitstürmen, das er – nicht unpassend zur aktuellen Linie des Wochenblattes – benutzt, wenn er zum Jubiläum die Bedeutung des Mauerfall mit dem anderen Jubiläum der Erfindung des WWW (“eine viel größere und bedeutsamere Revolution”) zusammenspielt. Die Koinzidenz ist verführerisch, aber das gegeneinander Aufwägen ist ein Schritt zuviel und am Ende klingt das Freiheitslied, das hier aufgespielt, etwas zu einfach komponiert: Alles frei, alles besser und ein paar Ewiggestrige vom Politbüro der Deutungshoheit (Andrew Keen, Marek Lieberberg, Susanne Gaschke, Thomas Schmid und man kann aus der heutigen ZEIT auch noch Adam Soboczynski ergänzen) “fürchten um die Integrität ihrer Werke, ihre Souveränität als Urheber, um die Existenz der traditionellen Verlage, oder gleich um den Erhalt der literarischen und wissenschaftlichen Kultur”. Dabei steht doch eine neue, bessere Kultur erst ins Haus: “In dem Wunsch, die Wissenschaftler zur Publikation unter den Regeln von Open Access zu verpflichten, drückt sich nicht ein Ruf nach Enteignung aus, sondern die Stimme der Freiheit.”

So ganz simpel rollen die Würfel dann aber doch nicht zum Sechserpasch für alle. Die wissenschaftssoziologische Erfahrung zeigt, dass es neben dem idealistischen Ziel, der Menschheit vermittels Bekanntgabe von Erkenntnis etwas mehr oder weniger Gutes zu tun, in der Wissenschaft auch andere, ganz auf das eigene Dasein des Wissenschaftlers bezogene Motivationen vorliegen: Der Aufbau von Reputation. Open Access, so meine These, gelingt dann und dort, wo es dafür einen Beitrag leisten kann. Dann setzt es sich auf diesem Markt konkurrierender Publikationsformen durch.

Die Debatte, die um diesen Reibungspunkt geführt wird, lässt sich nämlich nicht nur als freiheitsgetriebener Durchsetzungswillen von progressiven Eingesperrten gegen rückständige Sachwalter der alten Zeit sehen, sondern ist durchaus insgesamt auch als Wettbewerb bis Machtkampf zu lesen: Wo es den einen mittels einer technischen Innovation darum geht, sich selbst – ganz wertfrei gemeint – zu profilieren und sich eine möglichst breite Existenzgrundlage zu sichern, die rhetorisch mit Deutungsanspruch für das, was morgen sein soll (und wird), also einem Zukunftsversprechen, verkauft wird, fühlen sich die anderen zwangsläufig in ihrer Position und ihrem Daseinsentwurf gefährdet. “Du musst dein Leben ändern” – der Imperativ auf dem Gemeinplatz schwingt mit (bzw. im Freitag: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“).

“Der vom gebundenen Buch befreite Text gilt ihnen, da scheinbar unkontrolliert und dem kritischen Auge des Verlages entzogen, für qualitativ minderwertig.”

Das stimmt natürlich nicht, denn wer in die Buchhandlungen geht und an den Regalen entlang schaut, sieht nicht unbedingt nur Werke, die Zeugnis eines besonders kritischen Verlagsauges geben. Aber es kann verkauft werden und es wird verkauft. Das vermeintliche Kriterium einer qualitativen Wertigkeit als Scheidelinie zwischen gedruckt und elektronisch wurde spätestens mit dem Einstieg der Verlage ins elektronische Publizieren überholt. Und kontrolliert wird der Text für die meisten Nutzer auch: Über die Zugangsprovider, die sich aus Marktgründen hüten, dies willkürlich zu tun. Dennoch: Wenn Vodafone die Funkmasten abschaltet, hat es sich auch mit dem freien digital Lifestyle. Die Kontrollinstanz ist nur eine andere. Wir sind aber nicht ausgebrochen, schon gar nicht aus dem Marktprinzip, denn nach wie vor verdient man mit uns Geld: wir sehen Anzeigen bei jeder Suchanfrage – d.h. wir zahlen mit unserer Aufmerksamkeit – und wir überweisen monatlich eine mittlere zweistellige Summe an die Zugangsprovider. Wir bezahlen also in gewisser Weise nach wie vor, um Inhalte zu rezipieren. Das ist auch notwendig, denn die Serverparks, auf denen wir unser digitales Leben einlagern und vollziehen, müssen am Laufen gehalten werden.

Jenseits dieser für den Freitag-Autor “einzigen Barrieren” und doch hochrelevanten Hürden des Zugangs bietet die Digitalität eine unendliche und vielfältig nutzbare Abbildungsfläche für symbolischen Ausdruck. Das Medienwandelargument ist dabei der Drehpunkt. Für Joachim Losehand ist das Aufkommen der digitalen Produktion, Distribution und Rezeption in ihrer Wirksamkeit mit dem Aufkommen der Schrift als Ergänzung zur Oralität vergleichbar. Ich (und vermutlich nicht nur ich) habe an anderer Stelle die Überlegung geäußert, dass besonders in Medienformen wie den Sozialen Netzwerken oder Twitter und auch vielen Weblogs, eigentlich eine Verschriftlichung des Gesprächs stattfindet. Die in den Jahrhundert elaborierten Kriterien der Schriftkultur werden dabei übergangen. Kurz: Man schreibt, was man sonst sagen würde und oft, wie man es sagen würde. Es wird der reine Kommunikationsakt dokumentiert, ohne den Willen, Aussagen im Sinn und in der Form dessen, was wir uns unter Geschriebenem vorstellen, zu fixieren. Die Rahmentechnologie des Speicherns und Durchsuchbarmachen hebt dabei die unmittelbare Vergänglichkeit des Gesprochenen auf, nivelliert technisch die Bedeutung der Äußerung. Das geschriebene Gesprochene und das Geschriebene klassischer Art gelten vor dem Suchroboter gleichermaßen. Wir zeichnen dadurch einen größeren Ausschnitt unseres Erlebens digital auf. Daraus erwächst eine ungeheure Komplexität, vor der verständlicherweise die, deren traditionelle Funktion es ist, das Geschehen der Welt zu deuten, erschrecken, weil es sie hoffnungslos überfordert.

Wer versucht, die Äußerungen zu einem Themengebiet – z.B. Open Access – im Netz mittels der zur Verfügung stehenden Technologien (RSS-Feeds) zeitnah mitzuverfolgen, kann sich in der Kommunikationsphäre im Minutentakt mit neuen Nachrichten konfrontieren, die zu lesen, zu verstehen und einzuordnen sind. Praktisch und sachgerecht leistbar ist es nicht. Auch in einer dematerialisierten, beschränkungsfreien Kommunikationswelt bleibt die Materie die Grenze, nämlich die der Körperlichkeit des Rezipienten. Die knappe Ressource in digitalen Lebenswelten ist nicht Geld, sondern Aufmerksamkeit. Hier gibt es sicher auch generationale Verschiebungen, ich bezweifle jedoch, dass die Wahrnehmung diesbezüglich unbegrenzt optimierbar ist. Letztlich zeigt sich der Nutzer (oder der Informationsrezipient) als ambivalente Größe: Auf ihn sind alle Entwicklungen und Erwartungen, ob totale Befreiung oder der Absatz von Büchern, projiziert, nur bleibt er trotz aller Nutzerbefragungen und Verhaltensanalysen eine Black Box, an der die Deutungseliten von gestern, heute und morgen ihre Vorstellungen von Welt ausprobieren.  Die wirkliche Freiheit in der Digitalität würde die Möglichkeit beinhalten, sich dieser auch zu verweigern und nicht wenige tun es in der Tat, manche sogar aus ökonomischen Gründen, da ihnen ein Internetzugang auch mit billigster Flatrate noch zu teuer scheint. Darin liegt auch ein Unschärfe im Text Joachim Loshands und vieler anderer, die ihre eigene Erfahrungswelt (hier: Buch und Web werden parallel genutzt) als Maßstab anlegen. Sie – und ich eingeschlossen – repräsentieren immer einen bestimmten informationellen Verhaltenstypus, der sich aufgrund seiner Webaffinität viel und permanent äußert und daher im Diskurs überproportional präsent ist. Dass die Hochrechnung der eigenen Rolle aber dann versagt, wo die Rollenmuster nicht gelten, wird oft vergessen. Joachim Losehand schreibt für und über den idealtypischen Freitag-Leser. Andere, durchaus legitime Weltsichten bleiben dabei allerdings naturgemäß außen vor. Und auch die begrenzte Perspektive ist oft allein quantitativ schon zuviel zum Lesen, Bewerten und bei Bedarf zum Kommentieren.

Jenseits der abgegrenzten, bekannten und durchschauten Fachcommunity ist es noch ungleich schwerer, Indikatoren für die Einschätzung der Relevanz von Äußerungen zu finden. Besonders wenn als Zugang nur die Volltextsuche bleibt. Da benötigt man viel Zeit zur Diskurssichtung und Tiefenlektüre. Folgerichtig versucht man die Darstellung zu optimieren und arbeitet an semantischen Technologien, die den Menschen bei der Relevanzbewertung unterstützen. Praktisch Wirksames findet sich momentan dabei leider noch nicht. Man ist in digitalen Umgebung bewusster denn je in dem klassischen Dilemma, immer zwischen zuviel und zu wenig zu stehen. Und noch mehr zu wollen. Bzw. wollen zu müssen: Es gibt weitaus zuviel Material, um mit traditionellen Methoden wissenschaftsgerecht, d.h. systematisch und annähernd umfassend, hindurchzusteigen. Das Gefühl, was einen angesichts der Regalkilometer in den Bibliotheksmagazin umfing, diese Empfindung immer am Bruchteil des Bruchteils eines Bruchteils herumzuarbeiten, stellt sich auch und manchmal besonders im dematerialisierten Zustand der Texte ebenfalls ein. Andererseits geht es aber auch darum, möglichst noch viel mehr digital verfügbar zu haben. Googles quasi-utopische Leitvorstellung, das Wissen der Welt an einer Stelle zu bündeln, ist dafür die prominenteste Variante.

Es gilt aber auch für die Wissenschaft und nicht zuletzt unter dem ökonomischen Zwang, die Investition in ein Repository auch vor dem Unterhaltsträger legitmieren zu können. Unbestritten meist dem Willen zur Verbesserung der Wissenschaftskommunikation nachgeordnet. Die allseits dahinterstehende Annahme lautet, dass es, wenn alles (in Zeichenform repräsentierte) Wissen der Welt in gleichen oder vergleichbaren Datenmodellen vorliegt, möglich wird, dies mit der entsprechenden Technologie viel effizienter nutzen zu können.

Die idealistischen Vertreter dieser – mitunter nur implizit mitschwingenden – Auffassung, gehen davon aus, dass sie mit dadurch die Welt verbessern. Die pragmatischen Vertreter erwarten neue Geschäftsmodelle. Die derzeit Etablierten sehen sich bedroht und versuchen entweder den Widerstand oder die Anpassung.

Aber wahrscheinlich ist es für alle tatsächlich wie am 9. November am Übergang an der Bornholmer Straße: Niemand weiß so recht, was passiert, nur alle spüren, dass etwas passiert und hoffen, dass es für sie gut ausgeht. Was aber eigentlich geschieht, erkennt man dann erst wieder in der Rückschau aus der Distanz.

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