Wie die Wissensgeschichte zur Wahrheit kommt. Die FAZ über das Entstehen einer neuen Mikro-Disziplin.

Die Bibliothekswissenschaft, so meine hier und heute vertretene These, ist ein weiche Disziplin. Unter weichen Disziplinen verstehe ich solche, die recht jung sind (was auf die Bibliothekswissenschaft alter Prägung allerdings nur bedingt zutrifft, vgl. hier) und/oder aus einer Notwendigkeit geborene Schnittstellendisziplinen zwischen anderen Disziplinen darstellen. Ein gutes Beispiel ist die Bildwissenschaft. Inwieweit die Disziplin Bibliothekswissenschaft tatsächlich mit meiner These in Übereinstimmung zu bringen ist, muss zugegeben noch geprüft werden. Und dafür gibt es, wie Stefan Laube im Wissenschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Mittwoch vermeldet (Wie es einst zur Wahrheit kam. In: FAZ, 29.06.2011, S. N4), nun eine weitere weiche Disziplin, die das Rüstzeug für derartige Betrachtungen entwickeln könnte: die der Wissensgeschichte.

Der Impuls, sich auf das Wagnis einer Fachneubegründung einzulassen, liegt in diesem Fall, so der Beitrag, darin, dass bestimmte als wichtig angesehene Aspekte der Metabetrachtung der Grundlagen von Wissenschaft in den dafür traditionell bekannten Fächern an den Rand der Agenden gedrängt werden:

“Wissensgeschichte kann sich auf ein großes Erbe aus Ideengeschichte, Philosophiegeschichte und Wissenssoziologie berufen, die seit geraumer Zeit ein marginales Dasein in ihren angestammten Fächern fristen.” (FAZ, S. N4)

Die Veranstalter der Tagung „Was ist Wissensgeschichte?”, von der die FAZ berichtet, sehen in diesem Ansatz ein über die reine Wissenschaftsgeschichte, die neben dem Aspekt des Wissens natürlich vor allem auch soziostrukturelle Aspekte betrachtet, hinausreichendes Konzept:

E[s] umfasst nicht nur zusätzlich die Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften, sondern auch die Geschichte jener Wissensformen, die sich traditionell von einem engeren Kreis der Wissenschaft ausgeschlossen sahen: etwa technisches Wissen, praktisches Wissen, prozedurales Wissen, Verwaltungswissen, Alltagswissen, soziales Wissen und ästhetisches, zumal visuelles Wissen.” (vgl. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=16358)

Das man im Umkreisen des Themas über eine Inklusions-/Exklusionsauslotung zwangsläufig immer wieder auf wissenschaftliches Wissen zurückfinden kann, versteht sich fast von selbst. Genauso offensichtlich ist der Bezug zu einer Bibliothekswissenschaft bzw. Bibliothekswissenschaftsgeschichte, stellt doch die Auseinandersetzung mit den Entwicklungslinien der Klassifikation als Prinzip der Ordnung des in Büchern manifest gewordenen Wissens eine vorzügliche und in den Katalogsystemen ebenso vorzüglich dokumentierte Annährungsmöglichkeit an den jeweils zeitgenössischen Umgang mit Wissen dar. (Das gilt selbstverständlich nur für Zeiten und Gesellschaftsbereiche, in denen Bibliotheken relevant und existent waren.)

Im FAZ-Artikel findet sich die eindeutige und eindeutig richtige Feststellung:

Ohne Medien kann Wissen nicht an eine größere Anzahl von Menschen gelangen. ”

Die Medien sind, wie wir wissen, in Archiven, Museen und in üppigster Zahl in Bibliotheken gesammelt, erschlossen und manchmal auch verschlossen. Die Motivationen, mit denen diese Sammlungen, Erschließungen und Verschließungen erfolgten, enthalten mutmaßlich einiges an Potential, um Aussagen zu treffen, die uns beim Verständnis des heutigen Er- und Ausschließens von Wissensrepräsentationen in den gegenwärtigen Ordnungsinstitutionen des Wissens helfen. Und kaum jemand, dem an gesellschaftlichen Fragen liegt, wird bestreiten, dass es geradezu geboten ist, die Filter Bubble und ähnliche Phänomene frühzeitig zu durchschauen.

Im Programm der Tagung fehlte die bibliothekswissenschaftliche  Facette allerdings, aber sofern sich die Disziplin konsolidiert, werden sicher weitere Veranstaltungen dieser Art folgen und dann wäre es gar nicht verkehrt, wenn auch Vertreter unseres Faches ihre Kompetenz einbrächten.

Der Bericht der FAZ referiert als roten Faden entsprechend einen anderen Schwerpunkt, den für die Bibliothekswissenschaft bewusst zu machen eine noch weitgehend ausstehende Aufgabe darstellt: die “Kehrseiten des Wissens”.  Die Problematisierung des Phänomens liest sich in der FAZ dann folgendermaßen:

Wenn Wissen das ist, was der Fall ist, worüber man eine Aussage treffen kann, so schöpfen derartige propositionale Formen meist aus einem Pool implizierter, visionärer oder visueller Annahmen, die jenseits der Ratio stehen.”

Nun ist die soziale Vorkonstruktion wissenschaftlicher Praxen ein ziemlich gut beforschtes Gebiet und wer sich damit befassen mag, findet beispielsweise in der Bibliografie Helen Longinos von ihrem Science as Social Knowledge (1990) bis zu ihrem 2005er Buch The Fate of Knowledge einen gründlich durchgearbeiteten und sehr zur Lektüre empfohlenen Argumentationsstrang zum Thema.

Das Reizvolle am Konzept einer Wissensgeschichte liegt aber gerade in der Erweiterung über diese vergleichsweise sauber strukturierte Dimension des wissenschaftlichen Wissens hinaus: In der Wechselbeziehung zur permanent in einem dem Menschen nur bedingt kontrollierbares Tohuwabohu einer hochkomplexen Welt des Sozialen, das sich aus allerlei Facetten sozialen Wissens in Interaktion ständig verschiebend hervorbringt und manchen als entropisches Unheil an sich, anderen dagegen als fantastische Spielweise erscheint, lassen sich gerade auch Rückschlüsse für die Geschichte des wissenschaftlichen Wissens und dem Soziotop “Wissenschaft” ziehen.

Spannend sind hier die Übergänge. Und zwar auf zwei Ebenen: Einerseits in den Biografien und außerwissenschaftlichen Lebenswirklichkeiten der beteiligten Akteure, deren disziplinärer Erkenntniswillen, wie jeder Wissenschaftler beim Blick in den Badezimmerspiegel feststellen kann, von einer Vielzahl von nicht-wissenschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt wird. Und – von diesen Partikularitäten abhängig – andererseits in den in der Community erzeugten Mechanismen zum Ein- und Ausschluss bestimmter Themen, Aspekte und Perspektiven.

Gegenstandsbestimmung, Methodenwahl und -adaption und schließlich die Theoriebildung sind Prozesse eines Miteinanders, das gerade nicht mit dem Skalpell aus der restlichen Lebenswelt getrennt wurde, sondern an einer narbigen Naht entlang mit dieser verbunden existiert und mitunter erbärmlich mickert, mitunter ordentlich wuchert. Ein Labor, in dem ein Mensch mit eigenem Bewusstsein, eigenen Gefühlen und eigenen Zielen agiert, ist hinsichtlich der vielgepriesenen Laboratmosphäre sofort relativiert. Eigentlich ist schon die Idee des Labors bereits selbst ein es relativierendes Element.

Die Schilderung der Tagung verweist für die Realität der wissensgeschichtlichen Forschung bisher auf eine andere Ausrichtung: Hier wird vor allem erst einmal wenig weit ausholend untersucht, was man wie erkennen kann. Was auch sinnvoll ist, kommt doch die Analyse idealerweise vor der Kritik.

Faszinierend wäre allerdings, wenn die sich formierende Community ihr Gegenstandsbewusstsein für eine Beobachtung des Entstehens ihres eigenen Denkstils, ihrer typischen Paradigmen und ihrer wissenschaftssoziologischen Grundverfasstheit nutzte, um in gewisser Weise on the fly selbst zu beobachten, zu dokumentieren und zu diskutieren wie ihr wissensgeschichtliches Wissen entsteht. Also dafür, eine Genealogie der Wissensgeschichte als fortlaufendes Tagebuch und damit als Spiegel zur Selbsterkenntnis anzulegen.

1 Response to “Wie die Wissensgeschichte zur Wahrheit kommt. Die FAZ über das Entstehen einer neuen Mikro-Disziplin.”


  1. [...] und die Wissenschaftsgeschichte, kam in der 26. KW auch auf seine Kosten. Es wurde ausführlich im IBI-Weblog und Libreas Blog darüber [...]

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