“Daumen hoch, Daumen runter” – Richard Powers zur Lesekultur im WWW.

“Es ist immer einfacher, an Bücher als einfache Produkte zu denken, anstatt im Lesen einen Prozess zu sehen. Und konsequenterweise ermutigt das Internet zum Sekundenurteil und interessiert sich nur für Bücher, die eine soziale Modeerscheinung unterstützen, und nicht für jene, die sie herausfordern oder in Frage stellen. Die Versuchung des Webs besteht darin, mal eben zu schauen, was alle anderen lesen und darüber zu denken. Und was ich da finde, reicht mir, um auf der nächsten Party ein Gespräch zu führen, ohne mich auch nur einmal der Herausforderung zu stellen, in dem Buch zu leben.”

Gestern zwischen Tür und Angel kamen Jakob (Voss), unser Boris 2.0 und ich irgendwie auf die eigenartige Entdeckung, dass alle über David Weinbergers Everything is Miscellaneous reden, es aber niemand wirklich gründlich gelesen zu haben scheint. Nun haben wir eine Art implizite Bestätigung/Erklärung unserer Wahrnehmung. In der aktuellen Ausgabe der Neuen Rundschau findet sich nämlich ein sehr interessantes und lesenswertes Gespräch mit dem Schriftsteller Richard Powers über die gesellschaftlichen Veränderungen im, und durch das Internet(s), das für ihn, der als Programmierer am Arpanet mit gefeilt hat, selbst schon wieder eine Transformation vom Text- und Bewegtbildmedium durchlaufen hat. Was als Morgenluft der Vielfalt begann, atmet mittlerweile über weite Strecken vorwiegend Massenkultur mit all ihren Konsequenzen. Gerade die häufig in Web 2.0-Kontexten zum Maßstab erhobenen Bewertungskultur sieht Powers nicht nur positiv:

“…,warum neigt bloß die Natur dazu, komplex ineinander verschränkte, artenreiche Gemeinschaften hervorzubringen, und warum produziert der Mensch dagegen nur Monokulturen? Das ist eine schwierige Frage und hängt mit dem Medium des Austausches zusammen. Durch die DSL-Breitbandkommunikaion wurde es noch einfacher, Blitzurteile zurückzuspielen – aber das ist nichts anderes als der faule Weg, mit Kunst umzugehen. Faul rezensieren, anstatt sich auf ein Buch einzulassen, faul diskutieren, in dem man fragt: “Wer ist besser, A oder B?” Wenn man aber ein Biotop betrachtet, fragt man sich nicht, was besser ist, eine Linde oder ein Rotschulterstärling. Solch eine Frage wäre völlig irrelevant – was wir von einem Ökosystem wissen wollen, ist, welche Rolle jeder Teil im Ganzen spielt, wie er sich und die anderen bestimmt – was alles für die Erhaltung des Gleichgewichts wichtig ist. Unsere menschliche Ökonomie tendiert hingegen dazu, all den vielfältigen In- und Output, die unterschiedlichsten Werte und sich widerstreitenden Dringlichkeiten, die sich in einem komplexen Kunstwerk widerspiegeln, in eine Währung umzutauschen: sei es Geld oder Meinung, Daumen hoch, Daumen runter, als ob diese Kunstwerke alle das gleiche wollten und alle mit den gleichen Maßstäben gemessen werden können. …”

Er sieht aber auch die Chance, das Medium anders zu nutzen und die Tiefe zu bewahren, wenn man es denn möchte und wie man feststellen kann, wenn man etwas tiefer taucht, möchten das – glücklicherweise – nicht wenige.

Am Ende schildert Richard Powers noch eine Erfahrung, die vermutlich die meisten intensiven Webnutzer bestätigen können:

“Während einem früher das Reisen die Augen für das Zuhause öffnete, folgt einem nun das Zuhause überallhin, genauso Zeit und Raum. Jeder der einmal 24 Stunden von seinem E-Mail abgeschnitten war, kennt die Panik – o mein Gott, die Welt hört nicht auf und ich bin nicht dabei, ich muss schnell wieder heim, sonst bin ich draußen – und gleichzeitig die Erleichterung -, ich entdecke eine Art Für-mich-Sein, von dem ich ganz vergessen hatte, dass es existiert.”

Wie gesagt: sehr lesenswert.

(Powers, Richard (2007) Das Zuhause folgt einem überallhin. Ein Gespräch über Lesen und Schreiben im Zeitalter des Internets. In: Neue Rundschau. 118 (3) 2007. S. 134-143)

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