Ein Witz (hoffentlich): Ein Bibliothekseklat in Ungarn.

Gerade einen Steinwurf zugleich vom Berliner Bebelplatz und vom Collegium Hungaricum entfernt und in einem Institut für Bibliothekswissenschaft sitzend, staunt man doch sehr, wenn man in der WELT lesen muss, was Paul Lendvai aus der ungarischen Zeitung Magyar Demokrata über dort geäußerte Pläne zum Umgang mit Bibliotheksgut paraphrasiert:

“Dieser Tage rief das Wochenblatt “Magyar Demokrata” (Ungarischer Demokrat) zur “Errichtung einer Kulturpolizei auf, bestehend aus drei- bis vierköpfigen Sonderkommandos auf”. Diese sollen die Bücher “linksliberaler Landesverräter” (György Spiro, György Konrad, Peter Esterhazy und Peter Nadas) aus den Bibliotheken entwenden und, wenn dies nicht möglich ist, die Blätter zumindest beschmieren und zerreißen. “Wir sollten keine moralischen Hemmungen haben. Diese Leute sind Mörder, ihre Gifte sind aus unserem Organismus auszurotten”, forderte der Redakteur des Blattes und rief “zum Kampf, zum heiligen Krieg” auf. Angesichts der Empörung in und außerhalb Ungarns versuchte der Chefredakteur die beispiellosen Angriffe gegen die herausragenden und – mit der Ausnahme Esterhazys – jüdischen Autoren als eine “witzige Betrachtung” hinzustellen.”

Gemeint ist wohl diese Glosse von Ádám Pozsonyi, zu der es an anderer Stelle eine Übersetzung ins Deutsche gibt. Liest man diesen Volltext, hat man aus der Warte eines durchschnittlich vernunftbegabten Wesens nennenswert Probleme, den schmalen Artikel ernster zu nehmen, als man es gemeinhin in Deutschland mit Beiträgen in der Titanic tut. Drastisch geschmacklos eben. Leider reichen die mir greifbaren Kenntnisse des Ungarischen nicht aus, um den Originaltext im richtigen Kontext und zwischen den Zeilen zu lesen. Sollte er sich aber nicht als etwas abgeschmackte Satire auf bestimmte geistesfeindliche Tendenzen (oft Hand in Hand mit einem albernen Zerrbild von Nationalgefühl zu beobachten) in der ungarischen Gesellschaft herausstellen, sondern irgendwo einen ernsten Kern besitzen, muss dem Betrachter der Entwicklung in dem an sich sehr sympathischen Land womöglich tatsächlich angst und bange werden.

Für den ruhigen Arbeitstag in Mitteleuropa ist es vermutlich die beste Lösung, den Einfall einer bibliotheksplündernden Kulturpolizei in einem EU-Partnerstaat als Schnapsidee zur Auslotung der Meinungsfreiheit zu lesen, die ihre Originalität daraus zu ziehen versucht, dass sie sich die anderer einzugrenzen versucht. Neu ist so etwas nun wirklich nicht. Peinlich schon. Allerdings dürften spätestens die ungarischen Bibliotheken solcher Tollheit einen Riegel vorschieben, in dem sie allen, die sich ob mit Pfeil, Kreuz oder beidem ausgezeichnet handgreiflich in ihrer Bestandsverwaltung einmischen wollen, ein schlichtes Hausverbot aussprechen.

4 Responses to “Ein Witz (hoffentlich): Ein Bibliothekseklat in Ungarn.”


  1. Ne, die meinen das ernst.
    “Weite Teile der Gesellschaft teilen diese Stimmung. Völkische Gebetsrituale für die »Seelenrettung des Magyarentums« und für die Nation – stets im Namen der »Heiligen Ungarischen Krone« – mit einer unappetitlichen Mixtur von Elementen des christlichen Glaubens und altmagyarischen Riten kennzeichnen den Versuch, eine Volksgemeinschaft zu schaffen, in der Linke und Liberale als »jüdisch«, als nicht zur Nation gehörend, angeprangert und ausgegrenzt werden. Im der Fidesz nahe stehenden Wochenblatt Magyar Demokrata schlug ein Rassist Ende Oktober vor, in die öffentlichen Büchereien zu gehen und dort die Bücher von verhassten linksliberalen – jüdischen – Schriftstellern wie György Konrád und Péter Nádas »zu stehlen und zu vernichten«.

    In der ungarischen Öffentlichkeit wird zudem darüber diskutiert, ob der bekannte Schriftsteller Péter Esterhazy »Halbjude« oder »Volljude« sei, und ihm wird »Ungarnfeindlichkeit« unterstellt. Ein Gerichtsurteil legitimiert die Außerung des rechtsextremistischen Gewalttäters György Budaházy: »Ihr werdet hängen, ihr geht dann nach Auschwitz, wir kommen zurück.« Dagegen wird ein Journalist verurteilt, weil er eine rassistische Motorradfahrergruppe als »faschistisch« bezeichnete. All das sagt viel aus über eine gesellschaft­liche Stimmung, die es den Rechten und Rechtsextremisten ermöglicht, Minderheiten jeder Art zu bedrohen.”

    http://jungle-world.com/artikel/2009/46/39757.html

  2. 2Wolfgang Kaiser

    Heimo Gruber aus Wien,Mitglied und Koordinator des Arbeitskreises kritischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare im Renner-Institut, rief vor wenigen Minuten in einem Newsletterbeitrag dazu auf, dass wir als Bibliothekarinnen und Bibliothekare militanten Aufrufen zu Bibliothekssäuberungen schon in den Anfängen entgegentreten sollten. Ferner verweist er auf EBLIDA und IFLA, die nun stärker in der Pflicht sind, auf internationaler Ebene ein entsprechendes Bewußtsein zu schaffen.
    Anbei weitere Quellen, die Gruber angab, welche genauestens untermauern wie besorgniserregend die Situation ist: In der ungarischen Wochenzeitschrift Magyar Demokrata (Nr.43/2009) ruft Adam Pozsonyi in seinem Artikel “Auf in den Kampf!” zu einer konzentrierten Büchervernichtung auf und schreibt u.a.:
    “….Sprechen wir es laut aus: Das geistige Leben Ungarns ist schon seit langem unter fremder Herrschaft, aber so sehr waren die Reste ungarischen Denkens nicht einmal in den finstersten Jahren des 20.Jahrhunderts aus dem allgemeinen Denken ausgemerzt wie heutzutage. Da unsere politische und geistige Elite fremd ist, müssen wir handeln, wie unsere heldenhaften Vorfahren damals, als unser Land durch Trianon verstümmelt wurde.
    Gründen wir kleine Kommandoeinheiten. Durchkämmen wir in Gruppen von drei oder vier Leuten die Bibliotheken und stehlen und vernichten wir die Krebsgeschwüre der linksliberalen Vaterlandsverräter und der Geschmacklosigkeit. Falls es schwierig ist, Exemplare hinauszuschmuggeln, reißen wir Seiten heraus, kritzeln wir darin herum, machen wir den Dreck dieser protegierten Vaterlandslosen, die von unseren vaterlandsverräterischen Medien auf allen Ebenen propagiert werden, unschädlich, so dass sie ihr geistiges Vernichtungswerk nicht fortsetzen können.
    Diese Aufgabe sollte nicht unterschätzt werden. Das Schicksal der Welt wird sich auf geistiger Ebene entscheiden, und es ist nicht egal, womit unsere Jugend – deren Anzahl immer weiter sinkt – sich die Seelen vergiftet, und was sie an die folgenden, noch ungeborenen Generationen weitergibt…….”
    Weitere Informationen: http://pusztaranger.wordpress.com/2009/11/01/rechter-kulturkampf-in-ungarn-zensur-und-bucherverbrennung/
    Die Zeitschrift Magyar Demokrata steht der nationalkonservativen Oppositionspartei FIDESZ nahe, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die nächsten Parlamentswahlen gewinnen wird. Der große Erfolg der rechtsextremen Jobbik-Partei bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und eine erschreckend hohe Anzahl ermordeter Roma machen zur Zeit Ungarn zu jenem Land, in dem eine massive Rechtsentwicklung europaweit wohl die gefährlichsten Erscheinungen zeigt.

  3. 3Hans König

    Es ist schlimm, dass zu solchen radikalen maßnahmen aufgerufen wird. Viel schlimmer ist jedoch, dass Ádám Pozsonyi mit seiner Begründung recht hat: die Medien sind manipuliert und gesteuert. In Deutschland verlieren renommierte Reporter und Intendanten ihre Arbeit, wenn sie nicht dem Diktat von oben gehorchen. DAS ist der wahre Skandal.

  1. [...] 5.12.: Andere dazu: „Ein Witz (hoffentlich): Ein Bibliothekseklat in Ungarn.“ Weblog am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu [...]

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