Ganz oder gar nicht? Was wir in Bibliotheken vergessen können, ein paar Assoziationen am Vormittag

Wichtiger noch scheint es, Heller-Roazens Überlegungen in ein Verhältnis zu setzen zu dem Programm der „digitalen Geisteswissenschaften“, welche ja die Verknüpfung der traditionellen Geisteswissenschaften mit dem Kampf gegen Vergessen und Zerstreuung des Wissens dadurch obsolet machen wollen, dass sie uns alle verfügbaren Informationen elektronisch bereitstellen. „Echolalien“ ist ein in bester geisteswissenschaftlicher Tradition gegen die Wirkungen des Vergessens geschriebenes Buch, das aber zugleich – und darin liegt seine ebenso konstitutive wie brillante Ambivalenz – das Vergessen als eine Grundlage menschlicher Kultur preist, die sich mittlerweile anschickt, durch das elektronische Zeitalter eliminiert zu werden.

Hans Ulrich Gumbrecht bespricht heute im Wissenschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die deutsche Ausgabe von Daniel Heller-Roazens Echolalias und weist dabei auf einen Punkt hin, der uns im Zusammenhang mit den “Grenzen Sozialer Software” und der Frage, was von den vielen dort präzis dokumentierten Kommunikationen von den Bibliotheken gesammelt und damit wenigstens soweit die Speicher reichen im kulturellen Langzeitgedächtnis der Gesellschaft abgelegt werden sollen bzw. inwieweit ein Vergessen durch Nicht-Archivierung eine Rolle spielen kann.

Gesetzten Falls es wäre möglich, wie Teile des Auditoriums beim Bibliothekartagsvortrag forderten, das gesamte deutschsprachige bzw. das gesamte Internet inklusive Twitter-Nachrichten, Bookmarklisten, Facebook-Profilen und Skype-Protokollen permanent und dauerhaft zu spiegeln und zu erfassen, so dreht sich eine Grundfrage des Bibliothekswesens auf einmal um: Es gilt nicht mehr auszuwählen was man sammelt, erschließt und verfügbar macht und damit die Kulturproduktion der Menschheit bewahrt, sondern bewusst auszuwählen und auszuschließen, was (digital) vergessen werden soll.

Das sich im Normalfall en passant vollziehende Vergessen und aus der Wahrnehmungswelt Fallende wird in digitalen Kommunikationsumgebungen zu einer bewussten Handlung, vor der jedoch – neben den momentan prinzipiellen technischen Grenzen des “Alles-Behaltens” – zunächst einmal die Grundentscheidung steht, inwieweit wir den alten Traum der Omni-Bibliothek tatsächlich verwirklichen wollen, weil wir es können (wenn wir es könnten).

Oder ob wir vielleicht doch von vornherein der Annahme folgen, dass gerade der Verlust von einzelnen Elementen und die Empfindung der Gefahr dieses Verlustes ein Urgrund kultureller Entwicklung ist, dem die Unterbindung des Verlustes diesen Grund entzieht, vorsorglich der allumfassenden Sammlung, Strukturierung, Erschließung und potentiellen Greifbarkeit entgegenwirkend genau solche Mechanismen des – vielleicht gar unkalkulierbaren – Verlierens in die Systeme integrieren. Für die Aufrechterhaltung der produktiven Spannung zwischen Regellosigkeit und Totalreglement könnte dies notwendig werden.

Andererseits ließe sich annehmen, dass gerade die Beseitigung der Sorge um die Verfügbarkeit der in Zeichen fixierten Kommunikationen andere, neue, vielleicht “bessere” Formen des Denkens und des Umgangs mit Information ermöglicht. Das vorausgehende Argument krankt also daran, dass es sich nicht als “überwindbar” zu denken vermag. Dass es nicht annehmen kann, dass das genannte Pendeln zwischen Anarchie und Käfig durch einen wissensgesellschaftlichen Qualitätssprung aufgelöst wird. Gedankenspiele und ein paar gescheiterte, weil von Anfang an rückfällige, Versuche zur Überwindung alter Bindungen gab es einige in der Geschichte. Diesen fehlte jedoch die Digitalität der Lebensorganisation mit all den Möglichkeiten der Aufhebung des Raumes. Mit dem Web 2.0 kehren sie bedingt zurück, nur fehlt bisher die neutrale Instanz, die die Basis dieser post-vergesslichen Kommunikationsgemeinschaft organisiert. Wer anderes als die Institution Bibliothek böte sich hier an?

Dem Problem der unkalkulierbaren Begrenztheit des Gedächtnisses enthoben und im informationellen just-in-time und just-for-you Schlaraffenland lebend, könnten sich nun demnächst die frei werdenden intellektuellen Kapazitäten, die nicht mehr im Memorieren und Suchen und Erinnern gebunden sind, auf andere Formen des Denkens und der Wissens- oder Weisheitsproduktion richten. Was dafür notwendig ist, ist einfach da, so wie heute Milch, Brot und Butter. Der informationelle Mangel ist beseitigt, der Rahmen ist gesichert und die Wissenschaft steigt auf die Schultern bei Bedarf aller Riesen gleichzeitig. Vielleicht lässt sie sich aus der aktuellen Lage nicht beantworten und eine Lösung ergäbe sich von selbst, aber ungeklärt scheint innerhalb dieser Utopie der Menschheit ursprünglichste Sinnfrage des “Wohin?” bzw. “Wofür?”.

Die Veränderung im Denken, die sich aktuell bereits deutlich von Faktenwissen zum Strukturwissen verschiebt und dem Bewahren von Dingen und damit der kulturellen Aufwertung von Alltagsobjekten weniger Bedeutung zuschreibt als einem aktuellen, auf überschaubare Kurzzeitziele gerichteten kommunikativen Handeln, in der kulturelle Zyklen – man denke nur an die Fußballmeisterschaften – und deren möglichst perfekter Ausführung an die Stelle herer gesellschaftlicher Entwicklungsziele treten, relativiert den Aspekt des Sammelns und damit des “Besonderen” im herkömmlichen Sinn ohnehin. Sinnlich in sich stark verkürzt, da dem Träger entkleidet, sind die beliebig abrufbaren, reproduzierbaren, rekombinierbaren Informationen eben vor allem das: beliebig. Die Fokussierung auf das “Event” oder auch den explodierenden Kunstmarkt sind Symptome für die Sehnsucht nach dem Besonderen (und damit Unterscheidbaren) und den Willen, dieses zu erzwingen. Die Gegen- oder Ergänzungsbewegung zum Digitalen. Die Diskussion um die “Bibliothek als Ort” weist in die gleiche Richtung, wird aber mit dem Starbucks-Gedanken und der damit verbundenen Normierung auch gleich wieder entindividualisiert, umfänglich berechenbar gemacht. Ein kontrolliertes Erlebnis, bestenfalls mit kontrollierten Überraschungen. Die Inhalte werden ohnehin durch das Worldcatering besorgt, wenn man möchte auch an jeden anderen Ort. Was zur Frage zurückführt: Welche Inhalte? Was wird gesammelt, bearbeitet und den Informationskunden angeboten? Vielleicht müssen sich die Bibliotheken dieser Frage gar nicht aussetzen und lagern die Sammlung und Erschließung an Zulieferer aus. OCLC, Google, Amazon sind drei übliche Kandidaten, es können aber auch andere (Myilibrary, DiviBib etc.) hinzutreten. Bibliotheken sind dann vor allem Markenakteure, Ansprechpartner und Endkundenlieferanten.

Beim Anspruch der Vollständigkeit wird eine solche Trennung in allumfassende Großhändler und den auf die Vermitterrolle und wiederum die Auswahl beschränkten Bibliotheken, nicht vermeidbar sein.

Ganz oder gar nicht, entweder vollständig aufheben oder sich vollständig von allem trennen – so also die Radikalisierung der Optionen für die Bibliotheken. Dazwischen läge das angedeutete Verfahren einer Anerkennung des (randomisierten) Verlusts und vor allem der Anerkennung, dass dieser nicht bis auf das Einzelelement kontrollierbar ist, nicht kontrollierbar sein sollte. Dass es nicht darum geht, alles und auf globaler Ebene und immer verfügbar machen zu können. Die Anerkennung der Notwendigkeit der Lücke, der eigenen Grenze also.

Aus der Vergänglichkeit ergibt sich überhaupt erst der Charakter des Singulären, des Besonderen. Darin, dass etwas verloren gehen kann, etwas nicht auf Abruf reproduzierbar vorliegt, liegt begründet, dass es nicht beliebig ist. Das es es ist. Zu klären wäre noch, ob und wie dieser Gedanke des Bewahrens des Besonderen, dass gerade die Option des Verlusts akzeptiert, Aufgabe bzw. Orientierungspunkt für die Institution Bibliothek überhaupt annehmbar ist. Oder an sich der Zeit/derzeit gemäß…

5 Responses to “Ganz oder gar nicht? Was wir in Bibliotheken vergessen können, ein paar Assoziationen am Vormittag”


  1. 1paul

    Ein wirklich zum ernsthaften Nachdenken anregender Beitrag, meine persönliche Sicht auf diese Thematik ist etwas pragmatischer.

    Und bevor ich zum eigentlichen Kernthema komme, eine kurze Erwiderung auf den Einfall Bibliotheken sollten jegliche Internetkommunikation speichern. Das ist mit Hinblick auf die Privatsphäre der Kommunizierenden konsequent abzulehnen. Weder Bibliotheken noch irgendeine andere Einrichtung oder Firma oder Person sollten Privatkommunikation speichern. Öffentlicher Meinungsaustausch, wie er typischerweise im “Web 2.0″ stattfindet, ist wiederum davon zu unterscheiden, nur will ich mir nicht anmaßen die Grenze zu ziehen. (Aber Skype zumindest würde ich meist eher dem Privatbereich zuordnen.)

    Viel diskussionswürdiger finde ich die Idee des automatisierten zufälligen Datenverlusts, wie ich es herausgelesen habe, bitte korrigiere mich, sollte ich etwas missverstanden haben. Mir ist nur noch nicht ganz klar wie ernst gemeint dieser Vorschlag ist, du selbst bezeichnest die Problematik des Vergessens als “Urgrund kultureller Entwicklung”. Und ich sehe es genauso: Die Schrift an sich, das geschriebene und gedruckte Buch, schließlich die Bibliothek; sie dienen dazu dem entgegenzuwirken. Und tun dies mit großem Erfolg, man stelle sich nur vor wir wären nicht in der Lage unsere Gedanken materiell festzuhalten.

    Die Überführung aller aufzeichnenden Techniken ins Digitale und die nur mit Rechnern möglichen Umgangsformen mit Information sind also folglich nur der momentan aktuelle Stand auf einer dem Vergessensprozess entgegenwirkenden Entwicklungslinie. Und ob dies der endgültige sein wird, wage ich zu bezweifeln. Warum sollten wir diese Errungenschaften nun also dadurch sabotieren, indem wir genau das Element, gegen das sie erbaut wurden, wieder in sie integrieren, absichtlich und künstlich. Es erscheint intuitiv folgerichtig, wenn man davon ausgeht, dass das Vergessen, (oder Datenverlust) Antrieb einer geistigen und technologischen Weiterentwicklung ist. Aber widersprüchlich, da man die Ergebnisse dieses Prozesses zum Teil zunichte macht, um den Prozess selber am laufen zu halten, nur aus der Annahme heraus, eine solche Entwicklungslinie könnte abrupt enden.

    Ich habe auch arge Probleme damit, deinen letzten Absatz zu verstehen. Warum sollte ein Ding dadurch den Charakter des Singulären oder Besonderen erhalten, wenn es vergessbar oder verlierbar ist. Schließlich trifft das doch auf alles zu. Wird ein Objekt, sagen wir ein Wissensobjekt, nicht dadurch zu einem solchen, indem man es erfassen, beschreiben, weiterverarbeiten usw. kann. Also durch die Möglichkeit des Umgangs damit. Und eine solche Möglichkeit, wenn auch eine eher endgültige, ist dann sicher immer auch das Vergessen. Aber das haben wir dann ja vielleicht bald überwunden.

  2. Hallo Paul,

    herzlichen Dank für die umfängliche Antwort.

    Die Frage, um die es mir geht, ist die, wie man mit dem Aspekt des Vergessens umgeht, wenn dieser technisch keine Rolle mehr spielen sollte. Diese ist natürlich rein hypothetisch und ich glaube nicht, dass es, soweit mein Glaubenshorizont reicht, gelingen wird, die Kommunikationen im WWW in ihrer Gesamtheit zu indexieren. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sich bei permanent verändernden Inhalten überhaupt kein Statuspunkt mehr oder bestenfalls willkürlich festlegen lässt. Kurz: Es gibt in diesem Kontext eigentlich keine begrenzbaren Dokumente mehr.

    Etwas, das permanent in Bewegung ist, lässt sich nicht vollständig erfassen, sondern nur zu einem gesetzten Zeitpunkt, wobei durch die Setzung schon wieder ein Teil verloren geht.
    Das Vergessen bleibt uns also ohnehin vermutlich erhalten.

    Interessant wird zu sehen sein, wie sich die Abgrenzungen und Strukturen der Mikrodokumente, die wir bisher im Web 2.0 vorfinden, verändern. Bislang kann man als Kennzeichen eines solchen “Dokumentes” den Zeitstempel als zeitliche Festlegung und den Permalink als quasi-räumliche Fixierung begreifen.

    Meine Überlegungen schließen sich allerdings an die Vorstellung von etwas an, was Nicholas Carr in seinem Text ins Journal für die Zukunft schreibt:

    Google’s headquarters, in Mountain View, California—the Googleplex—is the Internet’s high church, and the religion practiced inside its walls is Taylorism. Google […] is “a company that’s founded around the science of measurement,” and it is striving to “systematize everything” it does. Drawing on the terabytes of behavioral data it collects through its search engine and other sites, it carries out thousands of experiments a day, according to the Harvard Business Review, and it uses the results to refine the algorithms that increasingly control how people find information and extract meaning from it.

    und

    Last year, [Larry] Page told a convention of scientists that Google is “really trying to build artificial intelligence and to do it on a large scale.

    Wenn es also technisch machbar ist, jede Äußerung im Internet zu dokumentieren und je nach Bedürfnis punktgenau und automatisch zu verknüpfen, dann geht nichts mehr verloren: die Maschine vergisst nicht, verwischt nicht einmal einen Eindruck. Sie ist exakt. Sie verknüpft exakt. Sie legt exakt fest.

    Ob dies technisch tatsächlich machbar ist oder nicht, interessiert mich an dieser Stelle nicht. Selbst wenn wir dies als Ideal ansehen, als Ziel, auf das wir hinarbeiten und unsere semantischen Technologien entwickeln – als die Antriebsmühle der „Weiterentwicklung“ – dann sollte dennoch das Ideal, also das “weiter”, kritisch hinterfragt werden. Wenn es stabil genug ist, wird es dies aushalten. Wenn nicht, dann war das Hinterfragen sehr notwendig. Es geht mir in allem darum, zu überlegen, was mit den jeweiligen Entwicklungen gewonnen wird und was verloren geht.

    Bei der Digitalisierung geht all das verloren, was nicht digitalisierbar ist. Das Taschenbuch, welches ich mir in der Universitätsbuchhandlung hole, ist zunächst selbstverständlich auch ein serielles Produkt ohne Besonderheit, allerdings schon limitiert auf vielleicht 2000 Kopien. Dieses Objekt wird in dieser Form also nur 2000mal irgendwo in dieser Welt zu finden sein. Das PDF davon potentiell unendlich oft, denn es ist an sich beliebig kopierbar. Schreibe ich meinen Namen auf das Vorsatzblatt, wird das Buch auf einmal zum Unikat. Das mag pragmatisch gesehen nichts bedeuten und ist auch informationsökonomisch völlig ohne Belang, verknüpft aber mich als Person mit diesem Besitzzeichen geradewegs mit einem einzelnen Artefakt und erzeugt so eine konkrete Beziehung zwischen mir und dem Buch her.
    Mit Social DRM/Wasserzeichen geschieht etwas ähnliches, allerdings bleibt hier die Singularisierung des digitalen Objekts eine Simulation, bei der Text und Name hinsichtlich der Reproduzierbarkeit beliebig sind.

    Worauf ich also hinweisen möchte, ist, dass es beim Umgang mit Medien um weitaus mehr geht, als den Inhalt. Dass das Buch Spuren annimmt, vielleicht beschädigt wird beim Lesen, ist etwas, was ich sehr begrüße, denn dadurch erst wird deutlich spür- und lesbar, dass es tatsächlich be- und verarbeitet wurde.
    Ich schreibe in das Medium den Prozess meiner Lektüre, d.h. mich selbst ein. Diese Facette fehlt bei der digitalen Darreichung von Inhalten. Zwar zählt im Hintergrund die Zugriffsstatistik mit, der Text jedoch bleibt dahingehend spurenlos, der individuelle “Text” des Lesenden wird zum standardisierten Logfile und damit verliert das Inhaltsobjekt an dieser Stelle einen wichtigen Anschlusspunkt an den Menschen. Das dazwischen geschaltete Medium wird zur Trennwand. Dadurch, dass es keine materielle Fixierung gibt, dass es gleichgültg ist, was das Display in welcher Abfolge wann zeigt, lesen wir, wie hinter Glas. Die Inhalte sind eine Stufe weiter vermittelt, wir betrachten sie im Aquarium. Selbstverständlich gibt es Inhalte, die erst im “Aquarium” überhaupt betrachtet werden können – nämlich die dynamischen, permanent in Bewegung befindlichen. Generell aber bleibt diese Distanz nicht ohne Folgen, auch für die Art, wie man die Inhalt wahrnimmt.

    Digitale Information ist immer exakt und damit löscht sie die Zwischentöne, die den Reiz des Analogen ausmachen. Diese sind für die reine Information nicht zwingend notwendig. Für eine Interaktion mit dem Medium und mit dem Inhalt m.E. aber schon. Zugespitzt verlieren wir womöglich in diesem ubiquitären Informationsuniversum schlicht unseren Draht zu den Dingen.

  3. Die Forderung, alles aufzubewahren, halte ich für Unfug. Und dass etwas technisch möglich ist, ist natürlich kein Grund dafür, es zu tun. Sonst hätten wir ja Gründe, alles Mögliche zu tun. Möchte also erst mal einen Grund lesen, warum wir alles speichern sollten. Warum wir das nicht sollten, liegt auf der Hand: weil vieles absolut uninteressant und überflüssig ist. Nicht speichern ist eine sinnvolle Default-Einstellung.

    Allerdings bin ich geneigt, Ihren, Herr Kaden, Hinweis auf die Lesespuren als mangelnde Fantasie anzusehen: denken Sie nicht, dass es Geräte geben wird, so wie es jetzt schon Software gibt, die erlauben, das digital vorliegende zu annotieren, also Lesespuren zu hinterlassen? Und dies wird sicher umso einfacher werden, je fortgeschrittener die digitale Verfügbarkeit von Texten ist.
    Also, diese Rede von der Einschreibung: da höre ich poststrukturalistische Begrifflichkeit. SCheint mir ein bisschen kurzsichtig. Da könnten Sie von mir aus auch, und mit mehr Recht, sagen, dass Ihnen das analoge Medium einfach besser gefällt. Die eine Seite vom Mitmach-Web 2.0 ist doch, dass es individuelle Sichten auf alles Mögliche gibt…

  4. Vielen Dank für die Anmerkung.

    1. Als ein beliebter Grund, alles aufzuheben, wird generell angeführt, dass man heute nicht abschätzen kann, was eventuell morgen als relevant gewertet wird. Als Leitdisziplin führt man gemeinhin die Ethnologie an, die aufgrund von Alltagsspuren die Verfasstheit einer Gesellschaft erfassen möchte. Objektiv zu entscheiden, was uninteressant und überflüssig ist, erweist sich nicht als so trivial, wie man es vielleicht auf den ersten Blick annimmt. Insofern ist die Diskussion über die Auswahlkriterien m.E. durchaus sehr relevant.

    2. Mit Lesespuren meine ich gerade nicht die reine Annotation, sondern das nicht explizite, wie beispielsweise die Handschrift, die Relation von Schriftlinie zur Druckseite und all diese Dinge, die bei einer reinen Inhaltsfixierung aus der Sicht fallen. Mir geht es um die nicht inhaltsbezogenen, ein Artefakt individualierenden Merkmale. Die “kurzsichtige” Einschreibung die ich meine, ist also eine nicht-code-gebundene, langfristige, die nicht mit dem Speicher gelöscht, sondern nur mit dem Ausgabemedium vernichtet (oder mit groberen Spuren übertüncht)werden kann.

    Das ist sicher, da haben sie Recht, eine persönliche Fixierung, die dort keinen Platz hat, wo es ausschließlich um die Inhalte geht. Allerdings wäge ich hier nicht zwischen Medienformen ab oder kultiviere ein persönliches Ge- und Missfallen. Ich denke, dass dieser Aspekt, gerade wenn es um das Bewahren geht, Relevanz besitzt.

    Die Benutzung eines materiellen Objekts hinterlässt zwangsläufig Spuren und wenn es ein Einriss oder eine geknickte Seite ist. Wenn wir unsere Kommunikationen als XML-Schnipsel bewahren, dann sind sie zwar eindeutiger als je, verlieren aber gerade durch diese Eindeutigkeit und den Mangel an zumeist als überflüssig bewerteten (unfreiwilligen) Nutzungsspuren=Rahmeninformationen, an Reichhaltigkeit. Selbst wenn uns die Geräte erlauben, “Rauschen hinzuzufügen”, wie dies in der Bildbearbeitung schon der Fall ist, so ist dies nur eine Simulation des Rauschens. Was mich hier also interessiert, ist sozusagen der echte Kratzer auf dem Display des E-Book-Readers.

    Der Grund dafür, warum mir dieses zum Textinhalt buchstäblich Nebensächliche so am Herzen liegt, ist die Überzeugung, dass mit der perfekten Tilgung solcher Spuren auf den schnellen,klaren, eindeutigen Oberflächen in gewisser Weise die Bindung zwischen Mensch und Medium und Welt schwächer wird bzw. verloren geht.

    Und als jemand, der unglücklicherweise die Zugehörigkeit zu den Digital Natives knapp verpasst hat, sind mir solche Bindungen wichtig.

  1. [...] Tucker beschreibt vielleicht etwas eher verständlich, was ich in dieser Diskussion zum Ausdruck bringen wollte: Why I still buy [...]

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