Wenn das Leck aber nun keine Arche hat? Die Frankfurter Rundschau sieht die Bibliothek angeschlagen.

„Die Niederschrift, die von den pariser Passage handelt, ist unter freiem Himmel begonnen worden wolkenloser Bläue […]“

Wenn Oliver Herwig heute für seinen Besprechungsartikel (mit dem schwierigen Titel Die Arche mit dem Leck ) zu einer Ausstellung über Bibliotheken schon Walter Benjamin (neben Karl Marx) als den üblichen Vorzeigelesesaalbenutzer herausstellt, dann ist es schwer, nicht an diese himmelhochziehende Passage, die sich über das Passagenwerk spannt, zu denken.

Dazwischen knüpft der Journalist dann eine Wäscheleine vom großen Weltgestalter Internet – dem Schöpfer gewordenen Infrastrukturkonzept – in der immer richtig-falschen Grundaussage „Das Internet verändert alles.“ bis zur ebenso charakterisierbaren Normvorgabe für die Institution Bibliothek: „Sie wird sich weiter öffnen müssen.“

An diese heftet er einige Vorstellungsbilder einer Basisbetrachtung, die bei Konrad Gessner beginnt und einzelne Eindrücke der für ihn „seltsam melancholische[n] Ausstellung“ Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken zu einem rückschauenden Rundgang am Ende der Bibliothek, wie wir sie kennen, zusammenklammert:

„Mit einer Phalanx von Folianten, Plänen, Modellen, Fotos und Filmen stimmt das Architekturmuseum der Technischen Universität München einen Abgesang an auf die Welt der Büchereien, der Ausleihschalter und Kataloge. Die Bibliothek als Arche, dahinter steht die Angst, im Mahlstrom des Netzes unterzugehen, das erst alles Wissen verschlingt und später in wohl dosierten Bits und Bytes kommerziell verwertet.“

Es ist ein wenig wie die Weihnachtszeit der Älterwerdenden: Aus der durchaus berechtigten Furcht, so käme man nie wieder zusammen, führt man sich die Elementartatsache der Vergänglichkeit alles Seienden in wohliger Heimeligkeit vor Augen, kostet die Wonne dieser emotionalen Ambivalenz tief aus und staunt nicht einmal, dass man im nächsten Jahr wieder in der Vorabschiedsstimmung zusammenfindet. Dies mit einem gleichen Paar Socken in golden glitzerenden Geschenkpapier unterm Tannenbaum. (Argyle-Muster scheinen immer in Mode zu sein.)

Nicht nur „Bibliotheken sind zweifellos der Versuch, die chaotische Welt zu ordnen und ihr ein anderes, ein aufklärerisches Antlitz zu verleihen“, wobei hinter der Aufklärung nichts anderes steht, als der Versuch, eine bewusste Form zu finden, die prinzipielle Begrenztheit des Lebens zu meistern. Das schließt Bestätigung und Aufbruch in denselben Band ein. Denn natürlich hat „Weltwissen […] stets auch revolutionären Charakter“, so wie sich Lebendigkeit stets durch Bewegung auszeichnet.

Oliver Herwigs Feuilleton-Beitrag ist daher eine ganz willkommene Heimkehr für alle, die sich lebensmittelpunktlich mit Bibliotheken befassen. Allein einzelne querliegende Formulierungen wie „Geldspeicher Suchmaschine“ bilden rhetorische Geschwindigkeitshügel für das weiche Gleiten durch den sympathischen Text. „Angst ist ein guter Baumeister“ aber nicht zwingend ein guter Metaphernschmied. Denn auf einmal läuft Dagobert Duck (oder Walter Elias) durchs Bild und versucht sich bei Walter Benjamin einzuhaken. Diese Spannung zerhebelt die Vanitas-Idylle des Ausstellungsberichts und macht wieder empfänglich für die Myopie von Fehlvergleichen wie

„Wer braucht noch Studierzimmer und Lesesaal, der über Breitbandinternet und WLAN verfügt?“

Für Oliver Herwig eröffnet sich damit die Möglichkeit zu einer vorsichtigen Kritik an der Schau:

„Was aber bedeutet Bibliothek heute? Wer etwa die wunderbar offene und leutselige Stadtbücherei von Amsterdam erlebt hat, ahnt, warum inzwischen auch in der Stadtteilbibliothek München-Pasing eine Espressomaschine steht. Büchereien wandeln sich zu Wohlfühlorten, auch wenn Kritiker darauf verweisen, dass sie immer noch weniger bildungsfernen Familien dienen als bürgerlichen Bildungsfreunden zur Selbstvergewisserung. Doch davon schweigt die Ausstellung.“

Er selbst schweigt aber von der Tatsache, dass die Idee der Öffnung der Bibliothek  bzw. die Erkenntnis, „[d]ie beste Sicherung ist womöglich keine aus Mauern“ bei all denen, die sensibel genug waren und sind, Bibliothek nicht nur als hohlköpfiges Verwaltungsverfahren zu betrachten und betreiben, die Selbstverständlichkeit schlechthin darstellen.

Deren Welt war und ist niemals bipolar. Internet und Gedächtnis – individuell und kulturell – dürften gerade für aufgeklärte Akteure nur in der Weise in Relation stehen, wie sich Schnellbahntrasse und der gemütliche Luxus zweier Wohnsitze vereinbaren lassen. Verdrängung und Ausschließlichkeit mögen zeitgeistliche Faszinosa einer klappernden Beratungsindustrie sein, die pikanterweise in allerlei Kulturräume von Zeitungsredaktionen bis zu Bibliotheksverwaltungen eigenartige Szenarien des unbedingten, einseitigen Wandelgängelns hinein trompetet. Aber gerade reflexionsbegabte Geistesmenschen sollten vor dem Tönen solcher Weltanschauungen nicht übermäßig ehrfürchtig zusammenzucken. Schlössen sie sich zusammen, könnten sie diese Narrative mit Leichtigkeit zerpflücken und entzaubern und so etwas wie Google ohne jede Hysterie in seinen funktionalen Schranken erkennen. Eigenartigerweise tun sie es nicht…

Walter Benjamins Passagenwerk-Passage wendet den freien und offenen Himmel ins Diesseitige der Bibliothek in einer berauschenden Form, die sicher nicht alle nachvollziehen mögen, die aber in jedem Fall die Simulakren der Touch-Screen-Digitalität bisher völlig überfordert, welche mit ihrer Bildschirmbindung viel stärker konzentrierend wirken, als mancher annimmt:

„[…] wolkenloser Bläue, die überm Laube sich wölbte und doch von den Millionen von Blättern, in denen die frische Brise des Fleißes, der schwerfällig Atem des Forsches, der Sturm des jungen Eifers und das träge Lüftchen der Neugier rauschten, mit vielhundertjährigem Staube bedeckt worden. Denn der gemalte Sommerhimmel, der aus Arkaden in den Arbeitssaal der pariser Nationalbibliothek hinuntersieht, hat seine träumerische, lichtlose Decke über ihr ausgebreitet.“

Der Salle Labrouste war genauso Ort räumlicher Entgrenzung und geistiger Diffusion wie das, was Oliver Herwig sich als virtuelle Welt vorstellt. Bibliotheken waren genau genommen immer Zugangsmittel zu unüberschaubaren virtuellen Welten und der Lesesaal somit das iPad der letzten Jahrhunderte. Ob sich die Bibliotheksbenutzer auf Dauer mit der flexiblen Schrumpfform im Handtaschenformat zufrieden gegeben haben werden, wird uns möglicherweise eine entsprechende, seltsam melancholische Ausstellung eines Museums für digitale Kommunikationstechnik im Sommer 2034 aufzeigen. (Kein Katalog.)

2 Responses to “Wenn das Leck aber nun keine Arche hat? Die Frankfurter Rundschau sieht die Bibliothek angeschlagen.”


  1. “Das waren noch Träume! Nein, im digitalen Zeitalter baut sich die Weisheit kein Haus mehr. Die Weisheit schwirrt dann durchs Netz – wenn es sie überhaupt noch gibt.”

    Auch Christian Gampert, der die Ausstellung für das Deutschlandradio Kultur besuchen durfte, zeigt sich ganz deprimiert: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1504165/. (Sendung vom 13.07.2011)

  1. [...] führt die Bibliotheken im Kampf um das Publikum in die Versenkung. (vgl. hierzu auch Wenn das Leck aber nun keine Arche hat? , IBI-Weblog, 20.07.2011)  Man könnte nun die Prämissen – und zwar nicht nur auf der [...]

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