Die Bibliothekswissenschaft als Zentaurenstall? Warum das Fach den Digital Humanities besonders nahesteht.

Angesichts der Grundsätzlichkeit des Themas war das mediale Echo zur Tagung „Forschungsinfrastrukturen in den Geistes- und Sozialwissenschaften: Stellenwert – Förderung – Zukunftsperspektiven“ vom letzten Freitag sogar vergleichsweise zurückhaltend. Immerhin widmete die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Mittwochsausgabe dem ausgesprochen gut besetzten und besuchten Zusammentreffen in Bonn addiert in etwa drei Spalten Text als Rahmung  einer übergroß gedruckte Fotografie (dieser hier) der Thomas Burgh Library des Trinity College in Dublin, die so wie ein trotziges Gegenbild zur digitalen Verflüssigung geisteswissenschaftlich relevanter Materialien (z.B. Bibliotheksbestände) anmutet. Der von Eleganz triefende visuelle Bibliotheksfels in der Zeitung passt denn auch ganz gut zum Bericht Thomas Thiels, dem das Thema insgesamt recht wenig Stil zu besitzen scheint.

Zum Ausdruck kommt dies beispielsweise in dem schönen Wort “Funktionslyrik”, der Gegengattung zur “Antragsprosa” (vgl. diesen FAZ-Artikel vom 30.11.2011), mit der sie jedoch semantisch auf einer Zeile liegt. Dass von der Tagung nicht viel mehr als ein Einpendeln der Richtung zu erwarten war (und diese Erwartung also weitgehend erfüllt wurde) zeigen auch informell kommunizierte Besuchereindrücke. Thomas Thiel fasst es für die Druckseite so:

“In Bonn versuchte man im Gespräch zwischen Forschern und Förderern Angebot und Nachfrage genauer aufeinander abzustimmen und sich zunächst einmal darüber klarzuwerden, was mit dem Technokratenwort [Forschungsinfrastrukturen] überhaupt gemeint sein sollte.”

und demonstriert nicht nur, dass die Online-Version in diesem Moment (21:12:56) auf das Wort “Forschungsdaten” nach “Technokratenwort” im Gegensatz zur Druckausgabe verzichtet, sondern auch, wie man durch einen kleinen Zusatz aus einer sperrigen Funktionsvokabel einen Dysphemismus macht.

Dass bürokratische Verwaltung und Technik nicht unbedingt bis zur Oberkante von ästhetischem Ausdruckswillen gefüllt sind, wusste man freilich schon zuvor. Auch unter Geisteswissenschaftlern. Und in der Tat ist die sinnliche Lücke vom digitalen Volltext zur Brinkmann & Bose-Ausgabe (die Ausstellung zum Verlag im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst wird zwei Seiten zuvor äußerst lobend besprochen) gewaltig. Allerdings will man kaum glauben, dass die Digital Humanities die kultivierten Geisteswissenschaften komplett zur Maschinendisziplin transformieren sollen. Obwohl Thomas Thiel da vielleicht widerspräche und sich mancher Apologet der Allround-Digitalisierung einer solchen Fantasie hingibt. Insofern ist es schon ganz gut, wenn sich die FAZ als Widerstandsnest gegen die Extrempole eines binären Zeitgeistes erweist.

Ich denke aber, dass die Digital Humanities sich eher zu einer neue Variante der Wissenschaft entwickeln, die mit den klassischen geisteswissenschaftlichen Methodenspektren und Theorien nur bedingt Schnittmengen aufweist. Daher ist die bekannte Reiberei, die sich auch in den FAZ-Bericht mit dem holzschnittigen Gegensatzpaar dynamisch und durchlässig vs. ruhend und beständig drängt, eher deplatziert. Dass die klassischen Geisteswissenschaften nach der allgemeinen auf Optimierung, Funktion und Vergleichbarkeit ausgerichteten Heißmangelung durch den wissenschaftlichen Zeitgeist der letzten Jahrzehnte nicht in voller Blüte stehen, ist offensichtlich (vgl. dazu auch diesen Text). Die Idee der möglicherweise im Bemühen um Schmissigkeit etwas irreführend so benannten Digital Humanities hat damit aber wenig zu tun.

Ich kann mich selbstverständlich irren, aber mir scheint es stärker, als schlösse sich mit den dahinter stehenden konzeptionellen Ansätzen vielmehr eine Lücke für einen bestimmten Bedarf, der bislang in der Wissenschaftsgeschichte wenig angesprochen wurde und werden konnte, dank digitaler Technik und Vernetzung nun aber angesprochen werden kann: Eine makrokosmische Perspektive auf die Art und Weise, wie Kultur bestimmte Artefakte erzeugt, benutzt und bewahrt. Oder, wenn man es so sagen will (wie ich es sagen will), ihre semiotischen Spuren legt. Oder (wie es andere sagen würden): Die Big Science dringt in die Bibliothek.

An dieser Stelle sind wir direkt im Aufgabenfeld der Bibliothekswissenschaft, denn seit je lesen wir nicht die Millionen Bücher. Aber wir können eine ganze Menge andere Dinge mit ihnen machen. Am etabliertesten ist bislang unsere Praxis, sie zu bewahren und in Infrastrukturen wie der Thomas Burgh Library bei Bedarf zugänglich zu machen. Integrieren wir nun aber die Überlegungen von Vorreitern quantitativer, nun ja irgendwie, geisteswissenschaftlicher Methoden (z.B. die eines Franco Morettis, vgl. auch hier), dann zeigt sich, dass die Bonner Tagung eigentlich eine Konferenz für eine Bibliothekswissenschaft des 21. Jahrhunderts war:

“Die Digitalisierung soll kein blindes, theoriefreies Anhäufen von Datenbergen sein [...]“

schreibt Thomas Thiel. Die Digitalisierung als Fortführung von Bestandsaufbau, -erschließung, -erhaltung und -vermittlung mit computertechnischen Mitteln läuft jedenfalls meiner Meinung nach in ziemlich direkter Linie zur klassischen Bibliotheksarbeit mitten hinein in die Gegenwart.

Diese, so eine Überlegung, erreichte nicht zuletzt unter dem Einfluss der Dokumentation auf dem Gebiet der Sacherschließung genau zu dem weltgeschichtlichen Zeitpunkt den exakt notwendigen Reifegrad, der es ihr nun ermöglicht, besonders auf dem Feld der Digital Humanities als Ergänzungsstück zur reinen, vielleicht etwas angereicherten Zugangsvermittlung eine gestaltende Rolle zu übernehmen. Die digitalen Geisteswissenschaften stehen also beispielsweise der Philologie oder der Literaturwissenschaft eben so nah, wie es die Bibliothekswissenschaft der letzten zweithundert Jahre tat. Mit dem Lesen hatte das Fach noch nie viel zu tun. Sondern mit Ordnen. Die neuen methodischen Auseinandersetzungen mit den Aufzeichnungsmedien und aufgezeichneten Inhalten zu eng mit den bestehenden Geisteswissenschaften zusammenzuführen, würde demzufolge beiden Gebiete nicht gerecht.

Das obige vorausgesetzt ist die Bibliothekswissenschaft nun natürlich in der Pflicht, entsprechend aktiv zu werden und etwas vorzulegen, was bei 1,5 offiziellen Hochschulprofessuren in Deutschland sicher nicht ganz leicht ist. Mit Projekten kann man zweifellos einiges kompensieren, wobei, wie Thomas Thiel nun wirklich nachvollziehbar ausführt, Projekte allein kein Standbein auf Dauer sein können:

“Ein zweiter Weg ist es, aus Forschungsprojekten institutionelle Dauerstrukturen zu entwickeln, die mit langem Atem unter der insulären Forschung und der Hatz der Projekte hinwegtauchen. Die Möglichkeit, Projekte zu verstetigen, sei deshalb in die Antragsprofile der Förderorganisationen aufzunehmen. Die DFG zeigte Verständnis.”

Was für die Studierenden des Instituts beruhigend sein dürfte, ist der übergreifend geäußerte Bedarf an Mitarbeitern, die mit einem soliden z.B. textinformatischen Hintergrund zugleich Technik, Inhalte und Verstehen verstehen. Hochentwickelte Mash-Up-Qualifikationen aus traditionell sich gern ausschließenden Leidenschaften und Interessen sind gefragt. In diesem Fach bekommt man sie. Wo der Wissenschaftsrat recht trocken und präzise einfordernd schreibt:

“Da das dafür notwendige Fachpersonal mit Zusatzqualifikationen in der Informatik und im Bereich der Kommunikationstechnologien nach wie vor kaum existiert, müssen die erforderlichen Konsequenzen in der Ausbildung der Studierenden so rasch wie möglich gezogen werden.”

hat der geisteswissenschaftlich übrigens auch an der Humboldt-Universität sozialisierte Thomas Thiel ein schmückenderes Bild im Repertoire:

“Auch die Zahl geisteswissenschaftlicher Kentauren mit informationstechnischer Expertise, in den Digitalisierungsprojekten sehr begehrt, sei auszubauen.”

An dieser Zitatstelle zeigt sich die Unsicherheit, die allgemein in der wissenschaftlichen Zwischenzone der digitalen Geisteswissenschaften besteht, deutlich: Die mythische Pferdemensch (bzw. das Menschenpferd) wird administrativ zur Planziffer degradiert. Passender in der Formulierung wäre indes statt “auszubauen” “nachzuzüchten” gewesen. In der deutschen Wissenschaftslandschaft sieht man nun nach der Bonner Tagung und den Berichten dazu vielleicht einen Kompassnadelausschlag genauer, wohin uns das digitale  Herumgaloppieren führen kann. Aber man sitzt (nicht nur mit den Sprachbildern) längst noch nicht sicher im Sattel. Vielleicht würde es helfen,  wenn das halbe Ross noch stärker als bisher den Reiter führte.

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