Twittern, ein Leben im Meer. Neues aus der Yahoo!-betriebenen Netzwerkforschung

Der Mittwoch ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bekanntlich Wissenschaftstag. Ihre heutige Sektion “Geisteswissenschaft” entdeckt das Maritime in Shakespeare, Lücken in der Frage nach einer generativen Universalgrammatik, wenig Neues auf einer Konferenz zur Mythenforschung, DaD’Annunzio, Constance de Salm zwischen französischen und deutschen Salonsesseln, Folter und Musik und im kleinsten der Beiträge Neues aus der Twitterforschung. Jürgen Kaube referiert also auf Seite N4 unter der Überschrift “Massenpersönlich” die Ergebnisse der Untersuchung Who Says What to Whom on Twitter (Volltext über diese Seite der Yahoo!-Forschungsgruppe) von Shaomei Wu, Jake M. Hofman, Winter E. Mason und Duncan J. Watts.

Diese Studie dürfte momentan wohl den zentralen Bezugspunkt der allgemeinen Netzwerkforschung zu diesem Medium markieren, prüft sie doch vergleichsweise gründlich Teile von Harold Laswells formelförmigen Wegweiser der Kommunikationstheorie Wer (sagt) Was (zu) Wem (über) welchen Kanal (mit) welcher Wirkung anhand des Kanals Twitter mit retweetenden (Wirkung!) Followern, die Tweets von Gefollowten lesen.

Mithilfe der so genannten Twitter-Lists ermittelten die Autoren dafür die Prominenz einzelner Twitterer. Aus den Listen leiten die Netzwerkforscher eine Klassifikation der Nutzer ab, die u.a. die in Deutschland eher wenig thematisierte Größe der “Celebrities” als Angelpunkt nimmt. Zurecht: Diese Akteure genießen hohe Popularität, besonders untereinander. Während dagegen Twitterer der Kategorie Blogger lieber anderen Bloggern die getweeteten Links nachpfeifen.

Eher wenig überraschend findet sich im Endergebnis das prominente Prinzip das wenige wirklich wahrgenommen wirken und – die Fragmentierungeffekte vernachlässigend – viele fleißig, vielleicht fast frenetisch, folgen.

Also dass natürlich wenige (genau: 20.000 Elite-Nutzer) sehr viel twittern und/oder verfolgt werden und andere (der Rest der angegebenen 42 Millionen Gesamtnutzer) weniger oft gelesen werden und möglicherweise auch einfach weniger aktiv sind. Wobei das Sample mit 1,5 Milliarden Verknüpfungen, das die Arbeitsgruppe zum Stichtag 31.07.2009 zusammencrawlerte, schon beeindruckende Ausmaße besitzt. (Das Material stammt von Haewoon Kwak et al. und ist hier abrufbar.)

Inwieweit so genannte Balkanisierungseffekte feststellbar sind, wird dagegen nicht genauer untersucht. Allerdings wird als erstes Resultat eben betont, dass gleich und gleich sich gerne folgen, was im Original “highly homophilous” heißt und bei Jürgen Kaube “homophil” (Anführungszeichen auch im Original). Die zweite Erkenntnis lautet, dass populäre Links – Hauptinhalt auf Twitter – nicht direkt von den Hauptquellen gezapft, sondern erst von Meinungsführern ausgeschenkt werden. Der Fluß selbst ist ein einer massenmedialen Streuung nicht unähnlicher Hauptstrom: die Opinion Leader, die die Welt wohl braucht, werden viel gehört. Selbst hören sie aber einer eher schmalen Seleção zu. Oder, wie die Studie es fasst: Die meist verfolgten Twitterer folgen nur sehr wenigen anderen.

Im dritten Ergebnis wird eine gewisse Themenstreuung über den konzeptuellen Tellerand der jeweiligen Klassifikationsgemeinschaft hinaus betrachtet:

“there are some differences—organizations, for example, devote a surprisingly small fraction of their attention to business-related news.”

So interessant wie auch nicht ganz unerwartet sind (viertens) die Einsichten in die Lebensdauer der untersuchten URLs in Bezug zu ihrem Ursprung: von massenmedialen Akteuren gestreute Verknüpfungen sind kurzlebiger als die, die auf Beiträge von Bloggern verweisen.

Hier könnte man im Anschluss untersuchen, ob mit diesem Effekt u.a. bestimmte Zitierkonventionen zusammenwirken. Wissenschaftstweets (bzw. Verweise auf wissenschaftliche Inhalte die innerhalb einer Community geteilt werden) sind leider als Sonderrubrik durch das klassifikatorische Raster der Forscher gerutscht. Unter Medien fallen also, so wie es aussieht, vor allem Nachrichtenmedien. Daher könnte die Kurzlebigkeit auch darauf zurückzuführen sein, dass eher aktuelle Meldungen über den Tweet-Ticker, die im Lauf der Ereignisse permanent modifiziert werden (und jeweils neue URLs) generieren, während von Bloggern etwas zeitstabilere Kommentare geteilt werden. Aber das ist nur eine Hypothese auf der Kastanienallee nachts um halb eins, die man sicher inhaltsanalytisch erhärten müsste.

Überhaupt nicht verblüfft ist man von dem Resultat (fünf), dass die ausdauernsten Verknüpfungen auf multimediale Inhalte wie Musik oder Videos zeigen. Den Effekt kennt man bereits aus Facebook sehr gut: Auch Twitter als soziales Ausdrucksmedium fungiert hier mutmaßlich als Stimmungs- und Erinnerungskommunikator und das Morgenlied oder die LOL-Cats auf Youtube werden zur Botschaft an die Freunde.

Die Autoren wissen selbstverständlich um die Grenzen ihrer Untersuchung und weisen auf eine ganze Palette von Aspekten hin, die draußen bleiben mussten bzw. für weitere Netzwerkforschungsvorhaben auf die Agenda müssen. Dazu zählt auch die pragmatische Dimension: Mit welcher individuellen Wirkung transportieren die Akteure die Informationsschnipsel weiter?

Und wer mit all dem wenig anzufangen weiß, sollte eventuell zurück ins Feuilleton der FAZ-Ausgabe blättern. Dort findet sich eine Art Kommentar zur Mainstream- und Seitenstranganalyse des Twitterversums sowie der Vereinzelung des Individuums in einer kurznachrichtlichen Lebenswelt. Er erscheint auf Seite 29 in Gestalt eines wie gewohnt überragenden Gedichtes von Steffen Popp:

“Meeresphysik. Technische Kompetenz, eher Gespür

für Strömungen, Mond. Das Leuchten großer Schiffe

fern, riesiges Schwarz durchpflügend. Niemandes

Sterne, Generatoren von etwas Flüchtigem, wie du. …”

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