Das verschwindende Tagebuch: Twitter anno 1609?

Eine kurze mediengeschichtliche Betrachtung der Kuratorin Christine Nelson im Weblog zur Ausstellung The Diary: Three Centuries of Private Lives im New Yorker Morgan Library & Museum bietet nicht nur einen netten Einblick in eine aufregende Facette der Aufschreibtechnologie, sondern liefert zusätzlich eine treffende Bezeichnung für die aktuelle digitale Kommunikationskultur über Soziale Software: “disappearing diaries”. Dass zum Bewahren auch das Vergessen zählt, wusste schon der Erfinder des im Posting präsentierten löschbaren Notizblocks aus dem Jahr 1609:

“wipe that you have written very lightly, and it will out, and within one quarter of a hower you may write in the same place againe.”

Allerdings ist das Problem bei der Internet vermittelten Kommunikation noch etwas anders gelagert, weswegen der von Christine Nelson in ihrem Beitrag herangezogene Vergleich zwischen dem frühen Etch a Sketch-Schreibblock und den digitalen Tagebüchern etwas hinkt. Und zwar mit mindestens zwei Beinen. (Ein drittes erwächst aus der Frage, ob es sich bei dem vorgestellten Renaissancemedium überhaupt um eines für das, was man ins Tagebuch eintragen würde, handelt…) Denn was wir auf Facebook schreiben, schreiben wir (sofern wir “Freunde” haben) nicht nur auf unsere digitale Informationswand, sondern auch in diverse Timelines. Diese Tagebücher sind also (quasi-)öffentlich. Zudem verschwinden die disappearing diaries zumeist nur aus unserer Wahrnehmung jedoch nicht aus dem digitalen Überarchiv WWW. Die Disappearance der Notiz vollzieht sich – im Gegensatz zu Robert Triplets Schreibtafel – nicht in der Technologie, sondern in der Aufmerksamkeit der Schreiber:

“We Tweet in the moment, and then the moment is gone, and it’s on to the next.”

Der Mensch zieht weiter, der Text bleibt. Irgendwo. Der Text Christine Nelsons zum Beispiel bleibt im Ausstellungsblog und zugleich ungeachtet meines kleinen Einwands natürlich sehr lesenswert. Seine titelgebende Frage übrigens bleibt noch mehr. Nämlich hochaktuell, wenigstens für alle, die heute Tagebuch führen. Also, nach der geschilderten Lesart, für alle die twittern, tumblrn, flickrn oder facebooken: Does a Diary Have to Last?

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